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90-Milliarden-Poker in Brüssel: Die Europäische Union und die finanzielle Stabilisierung der Ukraine

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Veröffentlicht am: 19. Dezember 2025 / Update vom: 19. Dezember 2025 – Verfasser: Konrad Wolfenstein

90-Milliarden-Poker in Brüssel: Die Europäische Union und die finanzielle Stabilisierung der Ukraine

90-Milliarden-Poker in Brüssel: Die Europäische Union und die finanzielle Stabilisierung der Ukraine – Bild: Xpert.Digital

Angst vor dem Finanz-Crash: Weshalb die EU Putins Milliarden (noch) nicht anrührt

90-Milliarden-Poker in Brüssel: Warum Merz einknickte und die Schuldenbremse umging

Der teuerste Kompromiss der EU-Geschichte: Wer am Ende wirklich für den 90-Milliarden-Kredit haftet

Ein historischer Kraftakt mit doppeltem Boden: Die EU beschließt ein 90-Milliarden-Paket für die Ukraine – doch der Preis dafür ist eine neue Ära der Verschuldung und ein riskantes Spiel mit dem Völkerrecht.

Es war eine der längsten und härtesten Nächte in Brüssel, an deren Ende ein Beschluss steht, der die finanzpolitische Architektur Europas nachhaltig verändern könnte. Bundeskanzler Friedrich Merz reiste mit einer klaren Forderung an: Eingefrorene russische Vermögenswerte sollten direkt genutzt werden, um den Verteidigungskampf der Ukraine zu finanzieren. Doch zurückkehren musste er mit einem Kompromiss, der politisch als Sieg verkauft wird, ökonomisch aber tiefgreifende Fragen aufwirft.

Statt Putin direkt zur Kasse zu bitten, greift die Europäische Union erneut zum Instrument der gemeinsamen Schuldenaufnahme – vorbei an nationalen Schuldenbremsen und entgegen den Warnungen der Europäischen Zentralbank. Das beschlossene 90-Milliarden-Euro-Paket sichert zwar das Überleben der Ukraine bis 2027, doch es ist auf einem Fundament aus juristischen Unsicherheiten und geopolitischen Wetten gebaut. Von der Angst vor einer Klagewelle russischer Oligarchen über die Existenzsorgen des belgischen Finanzdienstleisters Euroclear bis hin zum unsichtbaren Einfluss der Trump-Administration: Dieser Deal ist weit mehr als eine bloße Hilfszahlung. Er ist ein Vabanquespiel auf Zeit, bei dem unklar bleibt, wer am Ende die Rechnung begleicht – Moskau, Kiew oder doch der europäische Steuerzahler.

Die folgende Analyse beleuchtet die riskanten Details dieses Finanzexperiments und zeigt auf, warum der vermeintliche Befreiungsschlag Europas in Wahrheit ein Ritt auf der Rasierklinge ist.

Ein provokatives Finanzexperiment im Schatten von Putins Kalkül

Die Entscheidung der Europäischen Union, der Ukraine einen zinsfreien Kredit in Höhe von neunzig Milliarden Euro für die Jahre zwei tausendsechsundzwanzig und zwei tausendsiebenundzwanzig bereitzustellen, markiert einen der umstrittensten fiskalischen Beschlüsse der Unionsgeschichte. Trotz der von Bundeskanzler Friedrich Merz erhobenen Forderung nach direkter Verwendung eingefrorener russischer Vermögenswerte zog sich die EU schließlich auf einen Kompromiss zurück, der die fundamentalen wirtschaftlichen Spannungen zwischen europäischer Rechtstreue und geopolitischen Notwendigkeiten offenbart. Der nächtliche Beschluss, der erst nach mehrstündigen und dem Vernehmen nach erheblich angespannten Verhandlungen in Brüssel zustande kam, reflektiert nicht eine Lösung dieser Spannungen, sondern deren Verschiebung in die Zukunft.

Die Architektur des Finanzpakets: Gemeinsame Schulden als Notlösung

Die technische Struktur des zustande gekommenen Finanzierungsmechanismus offenbart ein tieferes Verständnis der gegenwärtigen europäischen Fiskalrealität als auf den ersten Blick erkennbar ist. Statt wie von Merz propagiert die eingefrorenen russischen Vermögenswerte unmittelbar als Sicherheit und finanzielle Grundlage zu verwenden, hat sich die EU für ein Modell entschieden, bei dem vierundzwanzig von siebenundzwanzig Mitgliedstaaten im Namen der gesamten Union gemeinsame Schulden an den Kapitalmärkten aufnehmen. Diese Schulden sind durch den EU-Haushalt abgesichert, was bedeutet, dass die Risiken gemeinschaftlich getragen werden.

Das Verfahren folgt dem bereits bei der Bewältigung der Corona-Pandemie etablierten Präzedenzfall, wonach die EU unter dem Namen Next Generation EU insgesamt siebenhundertfünfzig Milliarden Euro aufnahm. Der Mechanismus war damals politisch umstritten, insbesondere in Deutschland, wo die Schuldenbremse als verfassungsrechtliches Hindernis für direkte nationale Kreditaufnahmen fungiert. Der gegenwärtige Beschluss reproduziert diese Strategie: Indem die EU zentral Schulden aufnimmt, umgehen die Mitgliedstaaten ihre nationalen Verschuldungsgrenzen. Deutschland profitiert wirtschaftlich vom AAA-Rating der EU, trägt aber auch proportional zu den Schuldenrisiken bei, ohne dass dies über die nationale Schuldenbremse verantwortlich gemacht werden kann. Die politische Ökonomie dieser Konstellation enthält eine subtile Verschiebung von Governance-Verantwortung auf die europäische Ebene, wodurch nationale Parlamente entlastet werden, während gleichzeitig die EU als solche institutionell erstarkt.

Die Besicherung durch russische Vermögenswerte: Rechtliche Komplexität statt klare Risikoverteilung

Die Besonderheit des gegenwärtigen Kreditmechanismus liegt darin, dass die neunzig Milliarden Euro zwar als Darlehen strukuriert sind, die Rückzahlung aber an eine Bedingung gekoppelt wird: Die Ukraine muss das Geld erst zurückzahlen, wenn Russland Reparationen für Kriegsschäden leistet. Diese Konstruktion schafft ein Szenario mit mehreren plausiblen Endzuständen, von denen keiner wirklich befriedigend ist.

Im wahrscheinlichsten Szenario wird Russland keine substanziellen Kriegsreparationen leisten. In diesem Fall würden nach der gegenwärtigen Vereinbarung die eingefrorenen russischen Vermögenswerte zur Rückzahlung herangezogen. Doch hier entsteht eine juridische Komplikation: Diese Vermögenswerte sind bislang nicht konfisziert, sondern lediglich eingefroren. Sie verbleiben formal in russischem Eigentum. Die EU macht sich damit der potentiellen Anrechnung ausgesetzt, die eingefrorenen Gelder dauerhaft ohne völkerrechtlich einwandfreie Legitimation zu nutzen. Der belgische Finanzdienstleister Euroclear, bei dem etwa hundertfünfundachtzig Milliarden Euro dieser Vermögenswerte lagern, hat ausdrücklich vor enormen Haftungsrisiken gewarnt. Sollte Russland späterhin erfolgreich vor internationalen Gerichten Klage gegen eine Aneignung einreichen, könnte die Finanzdienstleisterin selbst zur Rechenschaft gezogen werden.

Die russische Zentralbank hat bereits angekündigt, Euroclear vor dem Moskauer Schiedsgericht zu verklagen und Schadensersatz in Höhe von etwa hundertneunundachtzig Milliarden Euro zu fordern. Diese Klage ist zwar vor russischen Gerichten eingereicht worden, denen international keine Autorität zukommt, dennoch signalisiert sie die geopolitische Dimension dieses Finanzpakets. Die Klage unterstreicht, dass Russland die gegenwärtigen Maßnahmen nicht als temporäre Sanktionen, sondern als Enteignung interpretiert. Damit öffnet sich potenziell ein völkerrechtlicher Diskurs über die Legitimation von Gegenmaßnahmen, den die EU möglicherweise nicht für sich entscheiden wird.

Das ukrainische Haushaltsloch: Zwischen Kriegsbedarf und struktureller Schwäche

Die neunzig Milliarden Euro sind für die Ukraine ein existentieller Betrag, entsprechen aber nicht dem gesamten Finanzierungsbedarf des Landes für den genannten Zeitraum. Die Weltbank schätzt den gesamten Wiederaufbaubedarf auf fünfhundertvierundzwanzig Milliarden Dollar, was ungefähr fünfhundertsechs Milliarden Euro entspricht. Die ukrainische Regierung selbst gibt an, dass der Wiederaufbau über einen Zeitraum von vierzehn Jahren mehr als achthundertfünfzig Milliarden Euro erfordert. Der gegenwärtige Kredit deckt also, selbst optimistisch berechnet, nur einen kleinen Bruchteil dieses Umfangs.

Noch kritischer ist die gegenwärtige Situation: Der ukrainische Staatshaushalt für zwei tausendsechsundzwanzig dediziert etwa zwei Komma acht Billionen Hrywnja, entsprechend etwa zwei Milliarden Euro, für militärische Zwecke – das entspricht ungefähr sechzig Prozent aller Staatsausgaben. Dies bedeutet, dass die Ukraine ihre gesamten regulären Staatseinnahmen dem Militär zuführt und damit nicht nur keine Reserven für andere staatliche Funktionen hat, sondern auch externe Finanzierung für Sozialausgaben, Bildung und Infrastruktur benötigt. Das deutsche Verteidigungsministerium hat für seine Ukraine-Hilfen einen Bedarf von fünfzehn Komma acht Milliarden Euro für zwei tausendsechsundzwanzig und zwölf Komma acht Milliarden Euro für zwei tausendsiebenundzwanzig angemeldet – dieser Bedarf wurde später mit dem Finanzministerium auf jeweils neun Milliarden Euro pro Jahr reduziert.

Die neunzig Milliarden Euro aus dem EU-Kredit müssen also nicht nur den Wiederaufbau unterstützen, sondern in erster Linie den militärischen Betrieb der ukrainischen Streitkräfte finanzieren, den Staatshaushalt stabilisieren und die militärische Infrastruktur instand halten. Dies macht deutlich, dass die gegenwärtige Finanzierungssituation der Ukraine existentiell precär ist und keineswegs durch das EU-Paket als abschließend gelöst betrachtet werden kann.

Die Verschiebung des Schuldenbegriffs: Warum Merz seine Niederlage als Sieg verkaufte

Friedrich Merz hat versucht, die eigene politische Niederlage als strategischen Sieg umzudeuten. Seine Position war, dass die eingefrorenen russischen Vermögenswerte direkt zur Finanzierung von Reparationskrediten genutzt werden sollten, nicht erst nach Kriegsende. Dies hätte bedeutet, dass Russland unmittelbar mit der materiellen Kostenfolge des Krieges konfrontiert würde, was nach seiner Logik Putins Kalkül verändern sollte. Merz argumentiert, dass Russland beim Blick auf die gesperrten Vermögenswerte erkennen würde, dass sich der Krieg für Moskau wirtschaftlich nicht lohnt.

Der Kompromiss, auf den sich die EU einigte, sieht hingegen vor, dass zunächst die EU über den Haushalt Schulden aufnimmt und diese als zinsfreie Kredite an die Ukraine vergibt, während die eingefrorenen Vermögenswerte vorerst als indirekte Besicherung fungieren und erst dann aktiv genutzt würden, wenn Russland keine Reparationen zahlt. Merz versuchte, dies als Sieg zu rahmen, indem er sagte, die Reihenfolge der Finanzierung sei vertauscht worden, aber letztlich sei Russland doch verpflichtet zu zahlen. Diese Umdeutung ist argumentativ fragwürdig: Der psychologische Effekt auf Putin ist tatsächlich kleiner, wenn die Vermögenswerte zunächst nur potentiell, nicht unmittelbar verfügbar sind.

Trotzdem hat Merz nicht unrecht, wenn er darauf hinweist, dass die Konstruktion faktisch bedeutet, dass Russland am Ende für die Finanzierung aufkommt, falls Reparationen tatsächlich fällig werden. Das Problem liegt in der zeitlichen Verzögerung und in der Unsicherheit. Ein rationaler Akteur wie die russische Zentralbank weiß, dass es viele Szenarien gibt, in denen Russland diese Vermögenswerte später zurückfordert, zum Beispiel nach einem Friedensabkommen oder durch einen Regierungswechsel.

 

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„Unbezahlter Krieg“: Wer wirklich für die Ukraine zahlt – Russland, die EU oder am Ende der Steuerzahler?

Die belgische Skepsis und die Euroclear-Problematik: Wo rechtliche Risiken entstehen

Die zentrale Rolle Belgiens und insbesondere von Euroclear in diesem Scenario offenbart ein fundamentales Governance-Problem der modernen Finanzwelt. Der Grund, warum Belgien sich der direkten Konfiskation widersetzte, liegt darin, dass die meisten eingefrorenen Vermögenswerte bei dem belgischen Finanzdienstleister gelagert werden. Dies war ein Grund für Bundeskanzler Merz, vor dem Gipfel mit dem belgischen Ministerpräsidenten zu verhandeln, um die belgischen Bedenken zu adressieren.

Der Kern der belgischen Sorge ist folgende: Wenn Euroclear die eingefrorenen Vermögenswerte direkt beschlagnahmt oder zur Finanzierung heranzieht und Russland dann erfolgreich vor einem internationalen Gericht Klage einreicht und diesen Beschluss infrage stellt, trägt Euroclear die Haftung. Euroclear fungiert als bloßer Verwahrer, nicht als Eigentümer. Falls die Finanzdienstleisterin von Gerichten zur Zahlung von Schadensersatz verurteilt wird oder falls der Anspruch durchgreift, könnte dies zum Konkurs des Unternehmens führen – mit gravierenden Konsequenzen für die europäischen Finanzmärkte. Der Geschäftsführerin von Euroclear ist dieser Horror-Szenario bewusst, und sie hat öffentlich argumentiert, dass die Vermögenswerte besser als Druckmittel in Friedensverhandlungen eingesetzt würden, statt eine komplexe und rechtlich fragile Konstruktion zu schaffen.

Das gegenwärtige Arrangement – bei dem die EU zentral Schulden aufnimmt und diese dann indirekt durch die eingefrorenen Vermögenswerte besichert werden – ist juristisch weniger direkt, schiebt die Risiken aber nicht wirklich weg. Falls Russland eines Tages erfolgreich Klage erhebt, wird die EU ihrerseits die Frage beantworten müssen, wie sie ihre Schulden absichern kann.

Die Europäische Zentralbank und die Warnung vor Finanzstabilität

Die Europäische Zentralbank unter Christine Lagarde hat ausdrücklich vor den Folgen eines solchen Szenarios gewarnt. Lagarde hat argumentiert, dass großflächige Maßnahmen gegen eingefrorene russische Vermögenswerte die Finanzstabilität der Eurozone gefährden könnten. Ihr Argument lautet, dass internationale Zentralbanken und institutionelle Anleger ihr Vertrauen in die EU als sicheren Hafen für Devisenreserven verlieren könnten, wenn diese Vermögenswerte ohne klare völkerrechtliche Grundlage angetastet werden.

Dies ist kein triviales Argument. Die Position des Euro als internationaler Reservewährung basiert zu erheblichen Teilen auf dem Vertrauen, dass die EU ein stabiles und rechtsstaatliches Regelwerk für Eigentumsrechte aufrechterhält. Wenn dieses Vertrauen durch eine Aktion der EU selbst untergraben wird, könnten andere Länder, insbesondere China und andere aufstrebende Mächte, ihre Reserven aus der EU abziehen und stattdessen in alternative Währungen oder Anlageklassen umschwenken. Dies würde die Kosten für EU-Kreditaufnahmen langfristig erhöhen und die Kreditfähigkeit von EU-Ländern schmälern.

Die EZB hat daher eine nuancierte Position: Sie akzeptiert, dass Zinserträge aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten der Ukraine zufließen können – dies ist ein kompromissartiger Mittelweg, der formal kein Eigentumsrecht antastet, aber dennoch Mittel mobilisiert. Die operative Nutzung der Hauptmasse der Vermögenswerte lehnt die EZB hingegen ab oder sieht sie mit gravierenden Risiken verbunden.

Der geopolitische Kontext: Trump und die europäische Autonomie

Ein Element, das in der öffentlichen deutschen Debatte zu kurz kommt, ist die Rolle der Trump-Administration. Das Nachrichtenmagazin Politico berichtete, dass Vertreter der Trump-Administration europäische Regierungen dazu ermutigt hätten, gegen die direkte Nutzung von eingefrorenen russischen Vermögenswerten zu votieren. Dies geschah hinter den Kulissen und zielte auf Länder ab, die als freundlich gegenüber den USA bekannt sind.

Der Grund für diesen Widerstand liegt darin, dass die Trump-Administration einen anderen Plan für die eingefrorenen Vermögenswerte verfolgt: Wall Street-Manager und Private-Equity-Investoren sollen diese Gelder verwalten und in US-amerikanischen Unternehmen und Projekten investieren. Dies würde nicht nur Geschäfte für US-amerikanische Finanzunternehmen generieren, sondern auch die langfristige wirtschaftliche Kontrolle über den Ukraine-Wiederaufbau in amerikanische Hände legen. Ein durchgesickerter Plan sieht vor, dass unter amerikanischer Verwaltung der Vermögensfonds auf bis zu achthundert Milliarden Dollar anwachsen könnte, durch Hebelwirkung und Reinvestitionen.

Dies illustriert einen fundamentalen geopolitischen Konflikt: Die EU versucht, ihre eigene strategische Autonomie zu bewahren und die Ukraine als Teil ihrer geopolitischen Sphäre zu stabilisieren. Die USA unter Trump hingegen versuchen, private Gewinne und strategische Kontrolle zu sichern. Der europäische Kompromiss, die Ukraine durch europäische Schulden zu finanzieren, ist insofern auch ein Versuch, dieser amerikanozentrischen Vereinnahmung zu widerstehen.

Das Szenario des unbezahlten Krieges: Wer trägt die Kosten?

Das zentrale Risikoszenario ist folgende: Der Krieg endet ohne Friedensabkommen oder mit einem Abkommen, bei dem Russland keine Reparationszahlungen leistet. In diesem Fall müssten entweder die eingefrorenen Vermögenswerte zur Tilgung des Kredits herangezogen werden, oder die EU-Mitgliedstaaten müssten diese Schulden aus ihren regulären Haushalten tilgen. Das erste Szenario ist politisch und rechtlich fragwürdig, das zweite würde bedeuten, dass europäische Steuerzahler faktisch für den ukrainischen Krieg aufkommen.

Die gegenwärtige Konstruktion ist eine Wette auf mehrere unsichere Größen: Erstens, dass Russland nach Kriegsende bereit ist, Reparationen zu zahlen. Zweitens, dass die eingefrorenen Vermögenswerte nicht vollständig durch juristische Maßnahmen Russlands wieder mobilisiert werden. Drittens, dass die Ukraine selbst den Kredit zurückzahlen kann, wenn alles andere fehlschlägt. Alle drei Annahmen sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig offen.

Die politische Ökonomie des Arrangements besteht also darin, dass die Kosten des Ukraine-Krieges zeitlich und institutionell fragmentiert werden: Gegenwärtig zahlt die EU über Schuldenaufnahme, zukünftig soll Russland über eingefrorene Vermögenswerte zahlen, und hypothetisch könnte die Ukraine selbst tilgen, falls die Kriegswirtschaft später normalisiert wird.

Die Laufzeit des Kredits und die Frage langfristiger Stabilisierung

Der Kredit deckt zwei Jahre ab. Dies entspricht dem militärischen und budgetären Bedarf der Ukraine bis zwei tausendsiebenundzwanzig. Die Frage nach der Zeit danach bleibt völlig offen. Wird die EU zwei tausendsiebenundzwanzig noch weitere hunderte Milliarden bereitstellen? Wird der Krieg noch andauern oder werden Friedensverhandlungen bereits zu einer Neubewertung geführt haben?

Die zeitliche Begrenzung auf zwei Jahre kann als bewusste strategische Entscheidung interpretiert werden: Sie drückt aus, dass die EU zwar bereit ist, kurz- bis mittelfristig massive Ressourcen für die Ukraine bereitzustellen, aber nicht die volle Verantwortung für einen unbegrenzten Zeitraum übernehmen will. Diese Fristigkeit schafft auch Druck auf die Ukraine, schneller zu Friedensverhandlungen zu kommen, da nicht indefinit externe Finanzierung garantiert ist.

Das Merz-Plan-Debacle und die europäische Fragmentierung

Die Tatsache, dass Merz seinen Plan nicht durchgesetzt hat, offenbart tiefere Bruchlinien in der europäischen Entscheidungsfindung. Der deutsche Kanzler hatte sich vor dem Gipfel als Verfechter einer harten Position gegen Russland positioniert und argumentiert, dass die EU die maximale finanzielle Kraft gegen Moskau einsetzen sollte. Dies ist nicht nur wirtschaftlich begründet, sondern auch geopolitisch: Deutschland sitzt geografisch an der Grenze zwischen NATO und Russland und hat daher ein intensives Interesse an ukrainischer Stabilisierung.

Jedoch konnten sich andere EU-Länder – insbesondere Belgien, Frankreich und Italien – nicht auf diese Position einigen. Belgien fürchtete Haftungsrisiken durch Euroclear, Frankreich und Italien wollten nicht ihre Haushaltsmittel als Rücklagen für ein solches Risiko committen, und mehrere osteuropäische Länder wurden durch die Trump-Administration beeinflusst. Dies führte zu einem Situation, in der Deutschland nicht die Koalition aufbaute, um seinen Plan durchzusetzen.

Die Niederlageerlebnis für Merz ist symptomatisch für ein größeres europäisches Problem: Die EU ist fragmentiert entlang wirtschaftlicher Interessen, geografischer Positionen und neuerdings auch entlang der Achse des Verhältnisses zu den USA. Ein vereinigtes Europa, das eine klare Strategie gegen Russland verfolgt, ist noch nicht hervorgebracht.

Zinslastigkeit und zukünftige Fiskallasten

Ein verstecktes, aber kritisches Problem des gegenwärtigen Arrangements ist die Frage der Laufzinsen. Die neunzig Milliarden Euro sind als zinsfreier Kredit strukturiert, d.h., die Ukraine zahlt keine Zinsen an die EU. Jedoch muss die EU diese neunzig Milliarden Euro selbst am Kapitalmarkt aufnehmen und wird dafür Zinsen zahlen müssen. Die EU hat aktuell hervorragende Kreditkonditionen, aber dennoch Zinssätze im Bereich von zwei bis drei Prozent pro Jahr. Dies bedeutet, dass die EU pro Jahr zwei bis zwei Komma sieben Milliarden Euro an Zinsen zahlen wird – und diese müssen aus dem EU-Haushalt gedeckt werden.

Merz hat in seinen Statements erwähnt, dass diese Zinslastigkeit kein Problem sei, weil die Schuldenaufnahme auf EU-Ebene die nationalen Haushalte nicht direkt belaste. Dies ist argumentativ korrekt, aber ökonomisch ist es trotzdem bedeutsam, dass diese Zinsen irgendwo herkommen müssen. Sie bedeuten, dass der EU-Haushalt reduziert wird für andere Ausgaben oder dass andere Länder höhere Beitragszahlungen leisten müssen.

Die gegenwärtige Dynamik ist also folgende: Deutschland hat Bedenken wegen seiner bereits angespannten fiskalischen Situation, akzeptiert aber, dass EU-Schulden nicht seine nationale Schuldenbremse verletzen. Andere EU-Länder tragen ebenfalls die Zinslasten, profitieren aber weniger direkt von einer stabilen Ukraine. Dies schafft längerfristig Spannungen, wenn die Zinslastigkeit des Arrangements offensichtlicher wird.

Strategisches Fazit: Ein Notbehelf statt einer Strategie

Das neunzig-Milliarden-Euro-Paket ist kein Ausdruck einer durchdachten europäischen Strategie zur Stabilisierung der Ukraine, sondern ein Notbehelf, der entstand, weil mehrere widerstrebende europäische Politiken aufeinandertrafen. Merz hätte gerne eingefrorene russische Vermögenswerte direkt verwendet, konnte sich aber nicht durchsetzen. Die EU brauchte trotzdem eine Antwort auf die manifeste ukrainische Finanzkrise. Das Ergebnis war ein Kompromiss, der allen Akteuren etwas gibt, aber keinem das, was er wirklich wollte.

Für die Ukraine bedeutet dies: Die Finanzierung bis zwei tausendsiebenundzwanzig ist gesichert, danach bleibt offen. Für die EU bedeutet dies: Sie hat sich selbst verschuldet, ohne klar zu haben, ob und wie diese Schulden später getilgt werden. Für Russland bedeutet dies: Ein Signal, dass die EU bereit ist, langfristig Ressourcen für die Ukraine zu binden, aber auch ein Szenario, in dem Russland eventuell später Vermögenswerte zurückfordert.

Die gegenwärtige Lösung ist also defensiv und unsicher. Sie zeugt von europäischer Schwäche, nicht Stärke. Das Geld wird der Ukraine helfen, weiterzukämpfen, aber es löst nicht die fundamentalen Fragen, die sich stellen: Wie endet dieser Krieg? Wer zahlt die Wiederaufbaukosten? Und wie kann Europa seine geopolitische Autonomie gegenüber USA und Russland gleichermaßen bewahren?

Diese Fragen bleiben offen.

 

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