
De-Risking statt Decoupling: Die 5 Schritte, mit denen der Mittelstand seine industrielle DNA neu programmiert – Bild: Xpert.Digital
Vom Maschinenbau zur Verteidigung: So öffnen Dual-Use-Technologien neue Milliardenmärkte für KMU
Warum europäische KMU im geopolitischen Spannungsfeld zwischen Resilienz und Abhängigkeit ihre industrielle DNA neu programmieren müssen
Der deutsche Mittelstand steht an einem historischen Wendepunkt. Die geopolitischen Verschiebungen der vergangenen Jahre haben die Grundfesten einer Wirtschaftsordnung erschüttert, die jahrzehntelang auf der Prämisse beruhte, dass wirtschaftliche Verflechtung Frieden schafft und globale Arbeitsteilung Wohlstand maximiert. Diese naive Vorstellung ist spätestens seit der russischen Invasion in der Ukraine und den chinesischen Exportbeschränkungen bei kritischen Rohstoffen obsolet geworden. Kleine und mittlere Unternehmen, die das industrielle Rückgrat Deutschlands und Europas bilden, sehen sich nun mit einer Realität konfrontiert, in der Geopolitik ökonomische Logiken dominiert und Lieferketten zu Waffen werden.
Die auf dem internationalen Roundtable im Oktober 2025 diskutierten Herausforderungen offenbaren die Tiefe der Transformation, die deutschen und europäischen KMU bevorsteht. Es geht nicht mehr nur um Kostenoptimierung und Effizienzsteigerung, sondern um existenzielle Fragen strategischer Autonomie, industrieller Resilienz und wirtschaftlicher Sicherheit. Die Diskussion zwischen Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaftsverbänden und Forschungsinstituten zeigt deutlich, dass Deutschland und Europa einen fundamentalen Kurswechsel benötigen, um im neuen multipolaren Systemwettbewerb bestehen zu können.
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Die Ökonomisierung der Geopolitik und das Ende naiver Handelsstrategien
Die globale Handelsordnung befindet sich in einem fundamentalen Umbruch. Was einst als selbstverständlich galt, die friedensstiftende Wirkung wirtschaftlicher Interdependenz, hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Wirtschaftliche Verflechtungen werden zunehmend als Hebel geopolitischer Macht instrumentalisiert. Die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten, China und Europa hat eine Intensität erreicht, die strukturelle Anpassungen in Handels-, Investitions- und Industriepolitik zwingend erforderlich macht.
Deutschland und die Europäische Union müssen erkennen, dass die bisherige Strategie des offenen Marktzugangs und der Hoffnung auf Reziprozität gescheitert ist. China verfolgt seit Jahrzehnten eine strategische Industriepolitik, die auf Selbstversorgung, staatliche Subventionen und systematische Technologieakquisition setzt. Das Programm Made in China 2025 zielt explizit auf jene Industriesektoren ab, in denen Deutschland seine größten Stärken hat: Maschinenbau, Chemie, Automobilindustrie und Metallerzeugung. Die Geschwindigkeit, mit der chinesische Unternehmen die Wertschöpfungskette nach oben geklettert sind, hat viele deutsche Mittelständler überrascht.
Die notwendige Antwort muss eine integrierte europäische Strategie sein, die drei Säulen umfasst: wirtschaftlichen Pragmatismus bei der Diversifizierung von Märkten und der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, politische Resilienz durch gestärkte europäische Allianzen und technologische Nachhaltigkeit zur Reduktion kritischer Abhängigkeiten. Deutschland muss seinen Glauben an die automatische Heilkraft freier Märkte aufgeben und anerkennen, dass Wettbewerber wie China seit langem strategische Handelspolitik betreiben, während Europa in ideologischer Erstarrung verharrt.
Die Bundesrepublik verfügt kaum über Erfahrung in intelligenter Industriepolitik und dem gezielten Setzen auf Gewinner. Der jahrzehntelang gepflegte Glaube an Marktkräfte und der Verzicht auf staatliche Intervention haben dazu geführt, dass Deutschland heute in einer Position der Verwundbarkeit steht. Russland hat gezeigt, wie Energieabhängigkeit als Waffe eingesetzt werden kann. China demonstriert mit seinen Exportkontrollen bei Seltenen Erden, Gallium, Germanium, Graphit und Antimon, wie wirtschaftliche Dominanz in strategischen Sektoren politische Erpressung ermöglicht. Deutschlands Abhängigkeit von China bei kritischen Rohstoffen übertrifft mittlerweile die frühere Abhängigkeit von russischer Energie.
Ein sofortiges Exportverbot für chinesisches Lithium allein würde industrielle Wertschöpfung in Höhe von 115 Milliarden Euro gefährden, etwa 15 Prozent der gesamten industriellen Wertschöpfung Deutschlands. Die Automobilindustrie, die auf Lithium für die Elektromobilität angewiesen ist, würde direkt 42 Milliarden Euro verlieren. Indirekte und induzierte Effekte würden die Verluste auf 88 Milliarden Euro steigern. Diese Zahlen verdeutlichen das Ausmaß der strukturellen Verwundbarkeit.
Die Antwort kann nicht in Protektionismus oder vollständiger Abkopplung liegen. De-Risking, nicht Decoupling, lautet die Maxime. Dies bedeutet die systematische Reduktion kritischer Abhängigkeiten durch Diversifizierung der Lieferketten, den Aufbau strategischer Reserven, die Förderung heimischer Produktion in Schlüsselsektoren und die Schaffung alternativer Beschaffungsquellen. Deutschland muss nach britischem Vorbild eine Task Force etablieren, die systematisch kritische Abhängigkeiten bewertet und produktspezifische Strategien entwickelt. Die European Raw Materials Alliance bietet einen vielversprechenden Ansatz, doch die Umsetzung hinkt den Ankündigungen hinterher.
Familienunternehmen als strategische Resilienzanker im Systemwettbewerb
In Zeiten geopolitischer Umbrüche erweisen sich Familienunternehmen als überraschend resilient. Während börsennotierte Konzerne unter dem Druck kurzfristiger Quartalserwartungen leiden und ihre Strategien entsprechend anpassen müssen, verfügen Familienunternehmen über strukturelle Vorteile, die in Krisenzeiten besonders wertvoll werden. Das Konzept der entrepreneurial family galaxies beschreibt, wie familiengeführte Netzwerke aus Unternehmen, Family Offices und Stiftungen auf geopolitische Disruption reagieren.
Traditionelle Familienunternehmen stehen unter zunehmendem Druck durch Handelsbeschränkungen und sich verändernde Allianzen. Family Galaxies jedoch, die sich über mehrere Firmen, Büros und Stiftungen erstrecken, können ihre Vermögenswerte strategisch rekonfigurieren, um Liquidität und Resilienz zu bewahren. Diese organisationale Flexibilität ermöglicht es ihnen, schneller auf externe Schocks zu reagieren als monolithische Konzernstrukturen.
Die zentralen Hebel der Resilienz bei Familienunternehmen sind vielfältig. Erstens sichern sie kritische Inputs durch strategische Beschaffung und langfristige Lieferantenbeziehungen. Zweitens ermöglichen sie branchenübergreifende Allianzen, die Wissenstransfer und Dual-Use-Innovation fördern. Drittens unterstützen sie den Übergang in verteidigungsbezogene Lieferketten durch klare Standards und Qualifizierungswege. Viertens stärken sie Governance-Strukturen und Liquiditätsinstrumente, um langfristige Investitionen zu ermöglichen.
Das sozioemotionale Vermögen von Familienunternehmen unterscheidet sie fundamental von anderen Unternehmensformen. Die langfristige Orientierung, das eingebettete Vertrauen in lokale Netzwerke und die Bereitschaft, nicht-ökonomische Ziele zu verfolgen, machen sie zu stabilisierenden Faktoren in regionalen Wirtschaftsstrukturen. Sie denken in Generationen, nicht in Quartalen. Diese Perspektive ermöglicht es ihnen, Investitionen zu tätigen, die sich erst über längere Zeiträume amortisieren, aber strategisch wertvoll sind.
Die soziale Einbettung von Familienunternehmen in ihre Regionen schafft Bindungen, die über rein ökonomische Transaktionen hinausgehen. Sie erhalten Arbeitsplätze auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, unterstützen lokale Institutionen und engagieren sich gesellschaftlich. Diese nicht-monetären Beiträge werden in standardisierten Erfolgsmetriken oft übersehen, sind aber für die gesellschaftliche Resilienz von immenser Bedeutung.
Allerdings sind auch Familienunternehmen nicht immun gegen die aktuellen Herausforderungen. Die Lehren aus der COVID-19-Krise lassen sich nicht eins zu eins auf den aktuellen Polycrisis-Kontext übertragen. Die Überlagerung multipler Krisen, von geopolitischen Spannungen über Klimaschocks bis zu technologischer Disruption und wirtschaftlicher Unsicherheit, schafft eine Komplexität, die neue Antworten erfordert. Die Fähigkeit von Familienunternehmen, diese multiplen Schocks zu absorbieren, hängt von ihrer strategischen Voraussicht, ihrer finanziellen Robustheit und ihrer Bereitschaft ab, tradierte Geschäftsmodelle in Frage zu stellen.
Das Galaxy-Konzept zeigt Parallelen zum Ökosystem-Denken, ist aber bewusst familienzentriert und betont die interorganisationalen Verbindungen, die von Unternehmerfamilien selbst geschaffen werden. Diese Netzwerke basieren auf Vertrauen, geteilten Werten und langfristigen Beziehungen. Sie ermöglichen Ressourcentransfer, Wissensaustausch und gemeinsames strategisches Handeln, das über die Grenzen einzelner Unternehmen hinausgeht.
Für die europäische strategische Autonomie sind Familienunternehmen von vitaler Bedeutung. Ihr eingebettetes Vertrauen, ihre langfristige Vision und ihr sozioemotionales Vermögen machen sie zu Ankern wirtschaftlicher Stabilität. Die Politik muss diese Stärken erkennen und gezielt fördern, statt Familienunternehmen durch überbordende Bürokratie und regulatorische Unsicherheit zu belasten.
Deutschlands verdeckte Export-Dominanz und die Asymmetrie der Abhängigkeiten
Die öffentliche Debatte über Deutschlands wirtschaftliche Verwundbarkeit konzentriert sich häufig auf Importabhängigkeiten, insbesondere von China. Eine differenzierte Analyse der Handelsbeziehungen offenbart jedoch ein nuancierteres Bild, das auch deutsche und europäische Stärken sichtbar macht. Deutschland verfügt in spezifischen Produktbereichen über bemerkenswerte Export-Dominanz, die strategisch genutzt werden kann.
Eine detaillierte Analyse auf Produktgruppenebene zeigt, dass etwa 180 bis 200 von über 5.300 Produktgruppen als exportdominant gelten, definiert als mindestens 30 Prozent Weltmarktanteil. Zwei Drittel dieser Produktgruppen finden sich in den Bereichen Chemie, Maschinenbau und Basismetalle. Der Automobilsektor dominiert in Wertangaben. Zwar ist die Anzahl dominanter Produktgruppen seit 2010 gesunken, scheint sich in jüngster Zeit aber stabilisiert zu haben.
Im internationalen Vergleich schneidet Deutschland respektabel ab. Es übertrifft Frankreich, Italien und Japan bei der Anzahl exportdominanter Produkte, liegt jedoch hinter den Vereinigten Staaten und deutlich hinter China zurück. Betrachtet man jedoch die EU27 oder den G7-plus-EU-Block als Ganzes, übertreffen diese Regionen China noch bei der Gesamtzahl exportdominanter Produkte. Dies unterstreicht die Bedeutung europäischer Integration und koordinierten Handelns.
Die Abhängigkeit Deutschlands von chinesischen Importen ist zwar signifikant, konzentriert sich jedoch auf eine relativ kleine Anzahl von Produktkategorien. Bei bestimmten Elektronikkomponenten, Textilien, Seltenen Erden und medizinischen Produkten beträgt der chinesische Importanteil zwischen 60 und 92 Prozent. Diese Konzentration macht gezielte Gegenmaßnahmen möglich und notwendig. Umgekehrt zeigen die Daten eine starke Abhängigkeit der Vereinigten Staaten von europäischen Importen, insbesondere bei industriellen und strategischen Gütern.
Diese asymmetrischen Abhängigkeiten sind politisch wertvoll. Wenn Deutschland den Export bestimmter Güter dominiert, sind andere Länder in gewissem Maße darauf angewiesen. Angesichts der US-amerikanischen Zollpolitik und der stetigen Verschärfung chinesischer Exportbedingungen für Seltene Erden kann dies als Trumpfkarte dienen, um politischen Druck auszuüben. Die Kunst besteht darin, diese Stärken strategisch zu nutzen, ohne in Protektionismus zu verfallen.
Die kritischen Rohstoffabhängigkeiten sind seit Jahren bekannt. Über die Managementträgheit hinaus ist die Untätigkeit teilweise einem tief verwurzelten Glauben an offene Märkte geschuldet, während Wettbewerber wie China strategische Handelspolitik betreiben. Deutschland fehlt es an Erfahrung in intelligenter Industriepolitik und beim Aussuchen von Gewinnern. Initiativen wie die European Raw Materials Alliance bieten vielversprechende Schritte nach vorn, doch die Umsetzung muss beschleunigt werden.
Ein pragmatischer, produktspezifischer Ansatz für Industriepolitik und De-Risking ist erforderlich. Nicht alle Abhängigkeiten sind gleichermaßen kritisch, nicht alle Sektoren benötigen den gleichen Grad an staatlicher Unterstützung. Die Herausforderung besteht darin, strategische Weitsicht mit unternehmerischer Flexibilität zu verbinden und makroökonomische Strategien mit der Realität auf Firmenebene zu verknüpfen, die oft von aggregierten nationalen Ansichten abweicht.
Die strategische Neuvermessung globaler Produktionsstandorte
Die Diversifizierung von Produktionsstandorten gehört zu den dringendsten Aufgaben deutscher KMU. Die jahrzehntelange Fixierung auf China als verlängerte Werkbank und zunehmend als Absatzmarkt hat zu Abhängigkeiten geführt, die sich nun als strategisches Risiko erweisen. Statistische Daten und Experteninterviews zeigen, dass alternative Standorte existieren, die Risiken streuen und neue Chancen eröffnen.
Deutsche Direktinvestitionen im verarbeitenden Gewerbe konzentrieren sich traditionell auf den amerikanischen Kontinent und innerhalb der EU, gefolgt von Asien. China rangiert zwar nach wie vor an zweiter Stelle unter den Zielländern, doch die Investitionspläne dorthin gehen zurück, während das Interesse an anderen asiatischen Ländern steigt. Indien, Vietnam, Thailand und Indonesien werden zunehmend als attraktive Alternativen wahrgenommen.
Die Kriterien für die Auswahl von Produktionsstandorten haben sich fundamental verändert. Politische Stabilität und Handelsabkommen haben an Bedeutung gewonnen und spiegeln die wachsende Aufmerksamkeit der Unternehmen für Risikodiversifizierung wider. Die reine Kostenoptimierung tritt zugunsten einer ganzheitlichen Risikobewertung zurück. Faktoren wie Rechtssicherheit, Infrastrukturqualität, Fachkräfteverfügbarkeit, geografische Nähe zu Absatzmärkten und regulatorische Stabilität werden systematisch in Entscheidungsmatrizen integriert.
Interaktive Länder-Scorecards und Länderprofile bieten KMU Orientierung bei der Bewertung potenzieller Standorte. Diese Instrumente berücksichtigen wirtschaftliche Kennzahlen ebenso wie politische Risiken, ESG-Kriterien und logistische Rahmenbedingungen. Die deutsche Bundesregierung unterstützt diese Diversifizierung durch Garantien, Beratungsangebote und diplomatische Flankierung, doch die Unternehmen selbst müssen bereit sein, neue Risiken einzugehen, um bestehende Abhängigkeiten zu reduzieren.
Die Herausforderung besteht darin, dass Diversifizierung zunächst Kosten verursacht. Neue Lieferantenbeziehungen müssen aufgebaut, Qualitätsstandards etabliert, logistische Prozesse angepasst und lokale Besonderheiten verstanden werden. Für KMU mit begrenzten Ressourcen ist dies eine erhebliche Hürde. Hier ist gezielte Unterstützung erforderlich, etwa durch Cluster-Initiativen, gemeinsame Markterschließung oder öffentliche Anschubfinanzierung.
Die Frage der Energiepreise und Bürokratie in Deutschland selbst darf nicht außer Acht gelassen werden. Wenn der heimische Standort durch hohe Kosten und regulatorische Komplexität unattraktiv wird, verstärkt dies den Anreiz zur Verlagerung. Eine wettbewerbsfähige industrielle Basis in Europa ist Voraussetzung dafür, dass Unternehmen überhaupt die Kraft haben, strategische Diversifizierung zu betreiben. Rahmenbedingungen müssen verbessert werden, damit Unternehmen wieder mehr Risikobereitschaft zeigen.
Die geografische Neuausrichtung muss mit einer technologischen Modernisierung einhergehen. Digitalisierung, Automatisierung und künstliche Intelligenz können helfen, die Produktivität zu steigern und Abhängigkeiten von spezifischen Standorten zu reduzieren. Nearshoring und Reshoring gewinnen an Attraktivität, wenn Produktionsprozesse flexibler und weniger arbeitsintensiv werden. Die Transformation zu einer zirkulären Wirtschaft, die auf Recycling und Kreislaufführung setzt, reduziert den Bedarf an Primärrohstoffen und damit Importabhängigkeiten.
Hub für Sicherheit und Verteidigung - Beratung und Informationen
Der Hub für Sicherheit und Verteidigung bietet fundierte Beratung und aktuelle Informationen, um Unternehmen und Organisationen effektiv dabei zu unterstützen, ihre Rolle in der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu stärken. In enger Verbindung zur Working Group Defence der SME Connect fördert er insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die ihre Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit im Bereich Verteidigung weiter ausbauen möchten. Als zentraler Anlaufpunkt schafft der Hub so eine entscheidende Brücke zwischen KMU und europäischer Verteidigungsstrategie.
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Dual-Use-Technologien als Brücke zwischen ziviler Innovation und strategischer Autonomie
Die Neustrukturierung der europäischen Verteidigungs- und Industrieökosysteme eröffnet KMU neue Chancen, bringt aber auch erhebliche Hürden mit sich. Dual-Use-Technologien, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken dienen, bilden eine praktische Brücke zwischen Sektoren. Sie ermöglichen es Unternehmen, ihre bestehenden Kompetenzen in neue Märkte zu übertragen, ohne sich vollständig neu orientieren zu müssen.
Europas Verteidigungsmarkt ist entlang nationaler Linien fragmentiert, wobei Länder häufig heimische Lieferanten bevorzugen und maßgeschneiderte militärische Anforderungen verfolgen. Während dies nationale Industrien unterstützt, begrenzt es Skaleneffekte und hält bedeutende Investitionen in Produktionskapazitäten zurück. Nur 27 Prozent der EU-Verteidigungsbeschaffung erfolgen über gemeinsame Initiativen, verglichen mit 61 Prozent in den Vereinigten Staaten. Das Ergebnis ist eine Zersplitterung, die Innovation behindert und Kosten erhöht.
KMU sind für Resilienz, Innovation und Flexibilität entscheidend, stehen aber vor großen Hindernissen beim Markteintritt. Der Zugang zu Entscheidungsträgern und Beschaffungsplattformen ist schwierig. Komplexe Zertifizierungs- und Sicherheitsüberprüfungsanforderungen stellen erhebliche Barrieren dar. Exportkontroll- und Compliance-Belastungen sind für kleine Unternehmen besonders gravierend. Finanzierungsprobleme aufgrund langer Vertragszyklen verschärfen die Situation.
Automatisierte Logistiksysteme können sowohl zivile Lieferketten als auch militärische Bereitschaft verbessern. Ein Dual-Use-Lagerprojekt zeigt exemplarisch, wie Technologien aus der zivilen Intralogistik für militärische Anwendungen adaptiert werden können. Solche Projekte demonstrieren die Machbarkeit und den Mehrwert der Sektorkopplung.
Gezielte politische Maßnahmen sind erforderlich, um die Beteiligung von KMU zu beschleunigen: transparente Beschaffungsprozesse, die SME-freundlich gestaltet sind; Schnellspuren für Vorabqualifizierung, die bürokratische Hürden senken; maßgeschneiderte Förderprogramme mit angemessenen Losgrössen und Zahlungsmodalitäten. Die Schaffung eines KMU-Fensters in EU-Förderinstrumenten, die Vereinfachung von Ausschreibungsverfahren und die stärkere Integration von KMU in die strategische Verteidigungsplanung auf nationaler und EU-Ebene sind notwendige Schritte.
Letztendlich wird eine Vision von KMU als wesentlichen Knotenpunkten von Europas Dual-Use-Backbone benötigt. Sie können sowohl Wettbewerbsfähigkeit als auch strategische Autonomie stärken. Die militärische Modernisierung Europas kann nicht allein von einer Handvoll Großkonzernen getragen werden. Die Einbindung der breit aufgestellten KMU-Landschaft ist essentiell, um Innovationskraft zu mobilisieren und Lieferketten zu diversifizieren.
Die Dual-Use-Debatte muss gesellschaftlich geführt werden. Die Entstigmatisierung sicherheitsbezogener Innovation ist notwendig, damit Unternehmen ohne Reputationsrisiken in diesem Bereich tätig werden können. Die Balance zwischen wirtschaftlichem Nutzen, ethischen Erwägungen und sicherheitspolitischen Notwendigkeiten muss transparent diskutiert werden. Eine reife Demokratie kann und muss diese Diskussion führen.
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Reluctant Innovation unter Kriegsbedingungen als Blaupause für europäische Industriepolitik
Der Aufstieg der ukrainischen Drohnenindustrie ist ein bemerkenswertes Beispiel für Reluctant Innovation, Innovation unter Zwang. Unter dem Druck des Krieges entstand ein dezentralisiertes Ökosystem, das Geschäftsinitiative, freiwilliges Engagement und gezielte staatliche Unterstützung kombiniert. Frühe Reformen erwiesen sich als entscheidend. Ein dezentralisiertes Militärbudget erlaubte Brigaden die direkte Beschaffung. Neue Plattformen wie BRAVE1 verbanden Innovatoren, Verteidigungsakteure und Investoren und schufen einen funktionierenden Drohnenmarkt, der Dual-Use-Technologien förderte.
Bereits existierende Stärken in technischer Ausbildung und IT-Infrastruktur beschleunigten den Fortschritt zusätzlich. Innerhalb von zwei Jahren wuchs die ukrainische Drohnenkapazität um das Zwanzigfache, mit Produktionskosten, die bis zu zehnmal niedriger sind als in der EU. Kontinuierliches Feedback vom Gefechtsfeld ermöglichte schnelle Experimente, Iteration und Wettbewerb, wodurch Notwendigkeit zu einem dynamischen Innovationsprozess wurde.
Die Regierung reduzierte Bürokratie, senkte Beschaffungsschwellen und führte Steuererleichterungen, Zuschüsse und Schulungsprogramme ein. Sie brachte effektiv unternehmerischen Geist ins Militär. Das BRAVE1-Plattformmodell funktioniert wie ein staatlicher Akzelerator, der Startups mit Kapital, Marktzugang und Kontakten versorgt. Über 2.800 Projekte von mehr als 1.200 ukrainischen Innovatoren wurden registriert. In den ersten zwei Jahren wurden über 540 Zuschüsse im Wert von umgerechnet 50 Millionen US-Dollar vergeben. Für 2025 sind fast 75 Millionen US-Dollar budgetiert.
Für andere Länder liegt die Lehre nicht in der Nachahmung, sondern in der Interaktion. Engere Zusammenarbeit mit unternehmerischen Verteidigungs-Tech-Firmen, Joint Ventures und Austauschprogramme können Europas Fähigkeit stärken, sich unter Druck anzupassen und zu innovieren. Die Geschwindigkeit, das Ausmaß und die Dringlichkeit der ukrainischen Erfahrung heben die Bedeutung dieser Faktoren für Verteidigungsinnovation hervor.
Dezentralisierung hat den KMU-Zugang ermöglicht, birgt aber auch potenzielle Risiken wie Korruption. Dennoch hat Dezentralisierung auch die Resilienz erhöht. Venture Capital fließt zunehmend in Drohnentechnologie und schafft Möglichkeiten für grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Potenzielle Anwendungen in der Logistiküberwachung werden durch regulatorische und Freigabebarrieren behindert. Gezielte regulatorische Lockerung könnte Innovation freischalten, ohne die Sicherheit zu gefährden.
Die Erfahrung zeigt, dass neue Industrien schnell entstehen können, wenn staatliche Unterstützung mit unternehmerischer Initiative übereinstimmt. Dual-Use-Technologien könnten einen gangbaren Weg für KMU bieten, in verteidigungsbezogene Märkte einzutreten. Für die europäische Industriepolitik bedeutet dies, dass Agilität, Dezentralisierung und die Bereitschaft, mit neuen Akteuren zu arbeiten, entscheidend sind. Die traditionellen Beschaffungsmechanismen, die große Systemintegratoren bevorzugen, müssen überdacht werden.
Zwischen strategischer Trägheit und pragmatischem Handlungszwang
Die Diskussionen auf dem Roundtable offenbarten einen fundamentalen Widerspruch: Einerseits besteht breiter Konsens über die Notwendigkeit von De-Risking und Diversifizierung. Andererseits persistiert erheblicher Widerstand gegen konkrete Maßnahmen, hauptsächlich aus Kostengründen. Deutschland und die EU fehlt es oft an strategischem Verhalten. Diese Diskrepanz zwischen Erkenntnis und Handeln ist gefährlich.
Kritische Rohstoffabhängigkeiten sind seit Jahren bekannt. Über Managementträgheit hinaus ist die Untätigkeit teilweise einem tief verwurzelten Glauben an offene Märkte geschuldet, während Wettbewerber wie China strategische Handelspolitik betreiben. Deutschland fehlt Erfahrung in intelligenter Industriepolitik und beim Aussuchen von Gewinnern. Diese ideologische Hemmung muss überwunden werden. Die European Raw Materials Alliance und ähnliche Initiativen bieten vielversprechende Schritte nach vorn, doch die Umsetzungsgeschwindigkeit ist unzureichend.
Die Bedeutung pragmatischer Handelsverhandlungen kann nicht überschätzt werden. Die EU muss ihre Verhandlungsposition aktiv nutzen und bereit sein, wirtschaftliche Hebel einzusetzen. Reziprozität muss durchgesetzt, unfaire Handelspraktiken sanktioniert werden. Dies erfordert politischen Willen und die Bereitschaft, kurzfristige wirtschaftliche Einbußen für langfristige strategische Gewinne in Kauf zu nehmen.
Die Wichtigkeit, makrostrategische Ansätze mit Unternehmensperspektiven zu verbinden, wurde wiederholt betont. Die Realität auf Firmenebene weicht oft von aggregierten nationalen Ansichten ab. Politische Maßnahmen müssen die Heterogenität des Mittelstands berücksichtigen. Nicht jedes Unternehmen hat die gleichen Möglichkeiten und Bedürfnisse. Differenzierte Förderinstrumente sind erforderlich.
Familienunternehmen zeigen in geopolitischen Umbrüchen besondere Resilienz durch ihre langfristige Orientierung und soziales Kapital. Ihre Netzwerke und nicht-ökonomischen Ziele helfen ihnen, Beziehungen aufrechtzuerhalten und Krisen zu navigieren. Diese strukturellen Vorteile müssen politisch anerkannt und gefördert werden. Regulatorische Belastungen sollten reduziert, Finanzierungsinstrumente auf die Bedürfnisse langfristig orientierter Unternehmen zugeschnitten werden.
China hat seit Jahrzehnten Industriepolitik betrieben, während die EU unvorbereitet erscheint und keine kohärente Langzeitstrategie besitzt. Diese Asymmetrie muss adressiert werden. Europa benötigt eine industriepolitische Vision, die strategische Sektoren identifiziert, Förderprioritäten setzt und Ressourcen konzentriert. Dies bedeutet nicht Abschottung, sondern intelligente Positionierung im globalen Wettbewerb.
Die Verbesserung der Rahmenbedingungen für KMU ist essentiell. Energiepreise, Bürokratie und regulatorische Unsicherheit belasten besonders kleinere Unternehmen überproportional. Eine Senkung der Energiekosten durch beschleunigte Energiewende, intelligente Netzsteuerung und europäische Energiesolidarität ist notwendig. Bürokratieabbau muss endlich ernst genommen werden. Die Unternehmen müssen wieder die Bereitschaft entwickeln, kalkulierte Risiken einzugehen. Dies setzt Planungssicherheit und Vertrauen in politische Stabilität voraus.
Der lange Weg zur strategischen Autonomie
Die Notwendigkeit, Offenheit und Resilienz angesichts geopolitischer Unsicherheit auszubalancieren, stellt die zentrale Herausforderung für den deutschen Mittelstand dar. De-Risking ist besonders relevant für KMU und den deutschen Mittelstand, deren globale Integration Diversifizierung sowohl vital als auch herausfordernd macht. Zahlreiche politische Instrumente existieren bereits zur Unterstützung kleinerer Firmen, doch der größere Bedarf liegt in einer gesellschaftlichen Diskussion über Dual-Use-Technologien und der Entstigmatisierung sicherheitsbezogener Innovation.
Der Aufbau von Resilienz ist nicht allein eine Frage der Industriepolitik, sondern auch der Mentalität und des öffentlichen Verständnisses. Eine reife Gesellschaft muss in der Lage sein, über Sicherheitstechnologien zu sprechen, ohne reflexartig in pazifistische oder militaristische Extreme zu verfallen. Die Fähigkeit Europas, für seine Sicherheit zu sorgen, hängt auch davon ab, dass Unternehmen in diesem Bereich tätig werden können, ohne gesellschaftlich geächtet zu werden.
Die Neuausrichtung bestehender Lieferketten in Richtung Dual-Use-Anwendungen wird länger dauern, als manche erwarten. Technologische Anpassung, Zertifizierungsprozesse, Kulturwandel in Unternehmen und der Aufbau neuer Kompetenzen brauchen Zeit. Doch dieser Prozess ist essentiell für Europas langfristige Wettbewerbsfähigkeit und strategische Autonomie. Ungeduld ist fehl am Platz, Konsequenz und Ausdauer sind gefragt.
Die Erkenntnisse des Roundtables werden in laufende Diskussionen einfließen und zu Politikdialogen beitragen. Die Wissenschaft muss ihre Rolle als kritischer Begleiter und Ratgeber der Politik wahrnehmen. Empirisch fundierte Analysen, die makroökonomische Trends mit mikroökonomischen Realitäten verbinden, sind unverzichtbar für evidenzbasierte Politikgestaltung.
Deutschland steht an einem Scheideweg. Die Entscheidung, ob der Mittelstand gestärkt aus den geopolitischen Umbrüchen hervorgeht oder ob strukturelle Schwächung und schleichender Bedeutungsverlust eintreten, wird in den kommenden Jahren fallen. Die Weichen müssen jetzt gestellt werden. Die strategische Neuausrichtung erfordert mutiges politisches Handeln, unternehmerische Risikobereitschaft und gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit von Resilienz und Autonomie.
Die multipolare Weltordnung, zunehmende wirtschaftliche Sicherheitsbedenken und steigender Protektionismus verlangen erneuertes Denken über industrielle Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz. Geopolitische Spannungen fordern langjährige Geschäftsmodelle vieler KMU heraus, die auf der Nutzung von Spezialisierungsvorteilen des internationalen Handels beruht haben. Die Antworten auf diese Herausforderungen und die Unterstützung durch politische Entscheidungsträger werden darüber entscheiden, ob Europa seine industrielle Basis bewahren und ausbauen kann.
Neue Geschäftsmöglichkeiten entstehen in wachsenden Märkten für Verteidigung und Sicherheit. Die Integration von KMU in Verteidigungs-Lieferketten, traditionell dominiert von großen Playern, kann gelingen, wenn die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Was Europa von anderen Ländern lernen kann, insbesondere von der ukrainischen Erfahrung mit schneller Industrieentwicklung unter Extrembedingungen, muss systematisch ausgewertet und adaptiert werden.
Der deutsche Mittelstand verfügt über enorme Innovationskraft, technologisches Know-how und unternehmerischen Geist. Diese Stärken müssen mobilisiert werden, um die Transformation zu bewältigen. Die Kombination aus familiärer Langfristorientierung, technischer Exzellenz und internationaler Erfahrung bildet eine solide Basis. Doch ohne entschlossenes politisches Handeln, gesellschaftliche Unterstützung und die Bereitschaft, tradierte Pfade zu verlassen, wird das Potenzial nicht ausgeschöpft werden können.
Die strategische Autonomie Europas hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, den Mittelstand zu stärken, Resilienz aufzubauen und gleichzeitig Offenheit zu bewahren. Der Weg ist lang, die Herausforderungen sind immens, aber die Alternative, eine fortschreitende Abhängigkeit und schwindende Wettbewerbsfähigkeit, ist inakzeptabel. Die Zeit zu handeln ist jetzt.
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Die Weltwirtschaft durchlebt derzeit einen fundamentalen Wandel, einen Epochenbruch, der die Grundpfeiler der globalen Logistik erschüttert. Die Ära der Hyper-Globalisierung, die durch das unerschütterliche Streben nach maximaler Effizienz und das “Just-in-Time”-Prinzip geprägt war, weicht einer neuen Realität. Diese ist von tiefgreifenden strukturellen Brüchen, geopolitischen Machtverschiebungen und einer fortschreitenden wirtschaftspolitischen Fragmentierung gekennzeichnet. Die einst als selbstverständlich angenommene Planbarkeit internationaler Märkte und Lieferketten löst sich auf und wird durch eine Phase wachsender Unsicherheit ersetzt.
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