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Das Mercosur-Paradox: Wenn Agrarlobbyismus Europas Industriezukunft gefährdet

Das Mercosur-Paradox: Wenn Agrarlobbyismus Europas Industriezukunft gefährdet

Das Mercosur-Paradox: Wenn Agrarlobbyismus Europas Industriezukunft gefährdet – Bild: Xpert.Digital

Eine Handvoll Rindfleischproduzenten gegen die geopolitische Handlungsfähigkeit eines Kontinents

Milliarden-Chance für die deutsche Wirtschaft: Warum der Mercosur-Deal für uns so wichtig ist

Chinas stiller Triumph: Was passiert, wenn Europa in Südamerika jetzt den Rückzug antritt

Es ist ein Wirtschaftskrimi, wie er symbolträchtiger kaum sein könnte: Nach einem Vierteljahrhundert zäher Verhandlungen steht die Europäische Union kurz davor, die größte Freihandelszone der Welt zu besiegeln – oder eine historische Chance endgültig zu verspielen. Das geplante Abkommen mit den Mercosur-Staaten (Brasilien, Argentinien, Uruguay, Paraguay) verspricht den Zugriff auf einen Markt von über 715 Millionen Menschen und jährliche Zollersparnisse von rund vier Milliarden Euro für europäische Unternehmen. Doch während die deutsche Industrie, vom Maschinenbau bis zur Automobilbranche, auf den Abbau immenser Handelsbarrieren hofft, droht das Vorhaben auf den letzten Metern zu scheitern.

Der Konflikt offenbart ein tiefes Paradoxon der europäischen Politik: Auf der einen Seite stehen gewaltige makroökonomische und geopolitische Interessen. Es geht um die Sicherung kritischer Rohstoffe wie Lithium für die Energiewende, die Diversifizierung von Lieferketten weg von China und den Absatzmarkt für deutsche Hochtechnologie, die derzeit in Südamerika mit Zöllen von bis zu 35 Prozent belegt ist. Auf der anderen Seite formiert sich ein lautstarker Widerstand, angeführt von Frankreich, der sich an einer verblüffend kleinen Produktgruppe entzündet. Die Angst vor importiertem Rindfleisch und Geflügel mobilisiert Bauernverbände und blockiert die politische Handlungsfähigkeit eines ganzen Kontinents – obwohl Ökonomen vorrechnen, dass die tatsächlichen Marktverschiebungen marginal wären.

In dieser Analyse beleuchten wir die Anatomie eines Streits, bei dem es um weit mehr geht als um Zölle und Quoten. Es ist ein Ringen um Europas Rolle in einer neuen Weltordnung: Schafft es die EU, ihre strategischen Interessen durchzusetzen, oder überlässt sie das Feld kampflos dem wachsenden Einfluss Chinas? Während Berlin auf eine schnelle Ratifizierung drängt, nutzt Paris sein politisches Gewicht für eine Blockadestrategie, die das Potenzial hat, die europäische Handelspolitik dauerhaft zu lähmen. Lesen Sie hier, warum das Mercosur-Abkommen zur Schicksalsfrage für die europäische Wettbewerbsfähigkeit geworden ist und wer die wahren Gewinner und Verlierer dieses geopolitischen Pokers sind.

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Letzte Ausfahrt Südamerika: Warum ein Scheitern des Abkommens ein geopolitisches Desaster wäre

Die Europäische Union steht an einem wirtschaftspolitischen Scheideweg, der symbolischer kaum sein könnte. Ein Handelsabkommen, das nach einem Vierteljahrhundert Verhandlungen endlich greifbar nahe ist, droht an einer erstaunlich kleinen Gruppe landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu scheitern. Während die strategischen und volkswirtschaftlichen Argumente für das Abkommen zwischen der Europäischen Union und den südamerikanischen Mercosur-Staaten überwältigend sind, konzentriert sich die politische Auseinandersetzung auf Produktkategorien, die in ihrer makroökonomischen Bedeutung marginal erscheinen, deren symbolische Kraft jedoch enorm ist.

Das Abkommen würde die größte Freihandelszone der Welt schaffen, einen gemeinsamen Markt von über 715 Millionen Menschen umfassen und europäischen Unternehmen jährliche Zollersparnisse von rund vier Milliarden Euro ermöglichen. Etwa 91 Prozent aller Zölle zwischen den beiden Wirtschaftsräumen würden schrittweise entfallen. Für den deutschen Maschinenbau, der derzeit mit Einfuhrzöllen von bis zu 20 Prozent konfrontiert ist, für die Automobilindustrie mit Zollsätzen von bis zu 35 Prozent und für die chemische Industrie mit Abgaben bis zu 18 Prozent würde dies eine fundamentale Verbesserung der Wettbewerbsposition bedeuten.

Gleichzeitig steht das gesamte Vorhaben vor dem möglichen Scheitern, weil sich Frankreich, Italien, Polen und einige weitere Mitgliedstaaten gegen das Abkommen positioniert haben. Die politische Dynamik wird nicht von den volkswirtschaftlichen Gesamteffekten bestimmt, sondern von den Befürchtungen einer kleinen, aber politisch äußerst mobilisierungsfähigen Gruppe von Landwirten, die einen Wettbewerbsnachteil gegenüber südamerikanischen Produzenten fürchten.

Die produktpolitische Anatomie eines Konflikts

Die politische Brisanz des Abkommens konzentriert sich auf eine präzise definierbare Gruppe landwirtschaftlicher Erzeugnisse. An erster Stelle steht Rindfleisch, sowohl frisches als auch gefrorenes Fleisch sowie hochwertige Teilstücke. Diese Produktkategorie mobilisiert besonders in Frankreich, Irland, Österreich, Italien und Polen massive Widerstände. Das Abkommen sieht vor, dass die Mercosur-Staaten jährlich 99.000 Tonnen Rindfleisch zu einem reduzierten Zollsatz von 7,5 Prozent in die Europäische Union exportieren dürfen, wobei dieser Betrag etwa 1,6 Prozent der gesamten europäischen Rindfleischproduktion entspricht.

Die tatsächlichen Auswirkungen dieser Kontingente werden allerdings von Ökonomen deutlich relativiert. Der irische Agrarökonom Alan Matthews hat dargelegt, dass die befürchteten Importsteigerungen bei frischem Rindfleisch massiv überschätzt werden. Die Europäische Union importierte 2024 bereits etwa 105.000 Tonnen Rindfleisch aus den Mercosur-Staaten, davon rund 60.000 Tonnen im Rahmen bestehender historischer Zollkontingente und weitere 45.000 Tonnen zu vollen Zollsätzen. Das neue Mercosur-Kontingent von 54.550 Tonnen frischen Fleisches würde zunächst jene 45.000 Tonnen ersetzen, die bislang zu vollen Zollsätzen importiert wurden. Die tatsächliche zusätzliche Importmenge läge daher lediglich bei etwa 10.000 Tonnen, nicht bei den befürchteten 54.550 Tonnen.

Der Großteil der zusätzlichen Importe würde zudem im Segment des gefrorenen Rindfleischs stattfinden, das ein deutlich minderwertigeres Produkt darstellt und vor allem von Italien und Spanien zur Herstellung verarbeiteter Fleischprodukte genutzt wird. Gefrorenes Fleisch konkurriert nicht auf demselben Markt wie frische Premiumstücke. Matthews schätzt, dass die Mercosur-Importe die europäischen Erzeugerpreise für Rindfleisch um höchstens etwa zwei Prozent drücken könnten, was im Vergleich zu den üblichen Marktpreisschwankungen keine Bedrohung für Europas hochpreisiges Fleischsegment darstellt.

Geflügelfleisch bildet die zweite Produktkategorie mit hoher politischer Sensibilität. Das Abkommen gewährt eine zollfreie Einfuhrquote von 180.000 Tonnen pro Jahr, was etwa 1,4 Prozent der europäischen Nachfrage nach Geflügelfleisch entspricht. Auch hier gelten die befürchteten Standardunterschiede bei Tierwohl, Antibiotikaeinsatz und Hygiene als zentrale Argumente der Ablehnung.

Zucker und Ethanol stellen besonders für Frankreich und andere große Zuckerrüben- und Bioethanolproduzenten eine sensible Thematik dar. Die Europäische Union gewährt eine Einfuhrquote von 650.000 Tonnen Bioethanol, davon 450.000 Tonnen zollfrei für die chemische Industrie und die übrige Menge mit reduzierten Zollsätzen für andere Verwendungen einschließlich Biokraftstoffe. Bei Zucker erfolgt eine Zollsenkung innerhalb der bestehenden WTO-Quote über fünf Jahre auf null.

Weitere sensible Produkte umfassen Reis, der vor allem für südliche EU-Mitgliedstaaten wie Italien, Spanien und Portugal relevant ist, sowie Eier und Eiererzeugnisse, für die ein Zollkontingent von 3.000 Tonnen Eieräquivalent vorgesehen ist, das über fünf Jahre in 500-Tonnen-Schritten ansteigt. Honig, Knoblauch und Zitrusfrüchte runden die Liste der politisch sensiblen Agrarprodukte ab, auch wenn ihre Volumina vergleichsweise gering sind.

Schutzmechanismen zwischen politischem Versprechen und ökonomischer Wirksamkeit

Um das Scheitern des Abkommens am Widerstand der Agrarländer zu verhindern, wurden umfangreiche Sicherungsmechanismen in den Vertragstext integriert. Diese Schutzklauseln bilden das Kernelement der politischen Kompromissbemühungen und sollen die Bedenken der skeptischen Mitgliedstaaten adressieren.

Die mengenbegrenzten Sonderzollkontingente bilden die erste Verteidigungslinie. Beim Rindfleisch können jährlich 99.000 Tonnen zu reduziertem Zollsatz importiert werden, wobei diese Menge in 44.550 Tonnen gefrorenes und 54.450 Tonnen frisches Rindfleisch aufgeteilt ist. Für jegliche darüber hinausgehende Menge gelten wieder die regulären, deutlich höheren Zollsätze.

Die sogenannten Alarmklauseln bilden das zweite Sicherungsinstrument. Eine Untersuchung wird eingeleitet, wenn die Importmengen um mehr als acht Prozent pro Jahr steigen oder wenn die Preise für Importe aus dem Mercosur mindestens zehn Prozent unter den Preisen für gleiche oder konkurrierende EU-Produkte liegen und es gleichzeitig entweder zu einem Anstieg der Jahresimporte zu zollbegünstigten Konditionen um mehr als zehn Prozent kommt oder die Importpreise dieser Produkte um zehn Prozent sinken. Dieser Schwellenwert von acht Prozent stellt einen Kompromiss zwischen der Forderung des Europäischen Parlaments von fünf Prozent und dem Vorschlag der EU-Kommission von zehn Prozent dar.

Entscheidend ist, dass diese Schwellen nicht für die gesamte Europäische Union gelten müssen. Es genügt bereits, wenn die Mengen- und Preisveränderungen in einer Gruppe von Mitgliedstaaten oder sogar nur in einem einzigen Mitgliedstaat auftreten. Sollte die Untersuchung zu dem Schluss kommen, dass ein ernsthafter Schaden oder auch nur die Gefahr eines Schadens besteht, kann die EU die Zollpräferenzen für die betroffenen Produkte vorübergehend aussetzen.

Für die Liste sensibler Produkte, zu der Rindfleisch, Geflügel, Reis, Honig, Eier, Knoblauch, Ethanol, Zucker, Zitrusfrüchte, verschiedene Milchprodukte, Mais und Maiserzeugnisse, Schweinefleisch, Biodiesel und Spirituosen gehören, ist eine besonders enge Markt- und Preisüberwachung vorgesehen. Die Europäische Kommission verfolgt Preise, Importmengen und Marktanteile dieser Produkte sehr eng, mit festen Routinen und Berichten mindestens alle sechs Monate.

Die Fristen für Schutzmaßnahmen wurden verkürzt. Untersuchungen sollen schneller abgeschlossen und Sofortmaßnahmen binnen weniger Wochen möglich sein, wenn ein ernstes Schadensrisiko erkannt wird. Bei Gefahr für die Landwirte können die Zollpräferenzen zeitweise wieder zurückgenommen werden. Praktisch bedeutet dies, dass für die betroffenen Produkte die Zölle wieder erhöht oder Kontingente gedeckelt werden können, bis sich der Markt beruhigt und kein schädlicher Anstieg der Importe mehr vorliegt.

Das Spiegelklausel-Dilemma und die Grenzen regulatorischer Konvergenz

Die politisch vielleicht kontroverseste Forderung betrifft die sogenannten Spiegelklauseln. Frankreich und andere Kritiker verlangen, dass importierte Waren denselben Standards genügen müssen wie europäische Produkte, insbesondere bei Pestizid- und Antibiotikaverboten sowie Tierwohl. Das Europäische Parlament hat ausdrücklich eine Spiegelklausel für Produktionsstandards gefordert, die vorsieht, dass Schutzmaßnahmen auch dann greifen können, wenn Importe, die von Zollpräferenzen profitieren, nicht den in der EU geltenden Umwelt-, Tierwohl-, Gesundheits- oder Lebensmittelsicherheitsstandards entsprechen.

Die praktische Umsetzung dieser Forderung stößt jedoch auf fundamentale Schwierigkeiten. Die Produktionsbedingungen in den Mercosur-Ländern unterscheiden sich entlang aller landwirtschaftlichen Produktionsketten erheblich von den EU-Verordnungen. In Brasilien sind etwa mehrere Wirkstoffe als Wachstumsförderer in der Tierproduktion zugelassen, darunter Bacitracin, Flavomycin und Monensin, die in der Europäischen Union verboten sind. Einige der im Mercosur zugelassenen Pestizide sind in der EU nicht erlaubt, obwohl die EU derartige Produkte herstellt und exportiert.

Allein in Brasilien sind über 500 Pestizide erlaubt, von denen 150 in der EU verboten sind. Die Registrierung, der Verkauf und der Einsatz von Pestiziden in Brasilien steigen kontinuierlich an. Glyphosat, das in der EU nur noch bis Dezember 2022 zugelassen war und dessen Totalausstieg diskutiert wird, wird in den Mercosur-Staaten weitflächig und vor allem im Soja-Anbau genutzt.

Die Frage, ob diese Spiegelklauseln tatsächlich einklagbar sind und politisch schnell und konsequent genug ausgelöst werden, bleibt zentral für die Glaubwürdigkeit der Schutzmechanismen. Die EU-Kommission betont, dass für importierte Lebensmittel grundsätzlich die gleichen Standards und Sicherheitsvorgaben gelten wie für die heimische Produktion. Allerdings beziehen sich diese Standards primär auf das Endprodukt, nicht auf die Produktionsbedingungen.

Das neu verhandelte Nachhaltigkeitskapitel und der ergänzende Anhang von 2024 sollen diese Bedenken adressieren. Sie unterstreichen die Bedeutung des Pariser Klimaabkommens und verpflichten beide Seiten, die ILO-Kernarbeitsnormen zu respektieren. Der Schutz der Biodiversität soll durch Förderung nachhaltiger landwirtschaftlicher Praktiken erfolgen, und es sollen Maßnahmen ergriffen werden, um die weitere Abholzung des Regenwaldes zu verhindern.

Kritiker sehen jedoch eine fundamentale Schwäche darin, dass diese Nachhaltigkeitsstandards nicht dem allgemeinen Streitbeilegungsverfahren des Abkommens unterliegen. Zudem enthält der Anhang nach Auffassung von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen ein Einfallstor zur Aushöhlung der EU-Entwaldungsverordnung. Der neu geschaffene Ausgleichsmechanismus räumt den Mercosur-Staaten ein Klagerecht gegen europäische Gesetze zu Nachhaltigkeit ein und gewährt ihnen ein Recht auf Kompensationen, wenn EU-Gesetze wie die Entwaldungsverordnung ihre Handelsvorteile einschränken sollten.

Die industriepolitische Kehrseite: Wo die eigentlichen Gewinner sitzen

Während die politische Debatte von agrarischen Ängsten dominiert wird, liegen die substanziellen wirtschaftlichen Vorteile des Abkommens eindeutig im Industrie- und Dienstleistungssektor. Der Kontrast zwischen der politischen Aufmerksamkeitsverteilung und der ökonomischen Bedeutungsverteilung könnte kaum größer sein.

Der Abbau sehr hoher Mercosur-Außenzölle auf Maschinen, Kraftfahrzeuge, Kfz-Teile, Chemie- und Medizintechnik bildet das Kernstück der wirtschaftlichen Vorteile für die Europäische Union. Die Mercosur-Staaten erheben derzeit teilweise die höchsten Außenzölle weltweit: 35 Prozent auf Autos, 14 bis 20 Prozent auf Maschinen und bis zu 18 Prozent auf Chemikalien. Mit dem Handelsabkommen würden die Mercosur-Staaten voraussichtlich rund 90 Prozent der EU-Importe aus dem Industriebereich liberalisieren.

Für den deutschen Maschinenbau, der derzeit mit Einfuhrzöllen von bis zu 20 Prozent belastet ist, bedeutet dies eine spürbare Entlastung. Die Zölle gehören zu den höchsten weltweit. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau betont, dass diese Zusatzkosten es Unternehmen erschweren, Projekte im internationalen Vergleich wettbewerbsfähig anzubieten. Mit dem neuen Abkommen sollen rund 91 Prozent aller EU-Exporte zollfrei gestellt werden.

Die Automobilindustrie profitiert besonders stark vom Zollabbau. Bislang zahlen deutsche Autohersteller einen Zoll von 35 Prozent auf jedes exportierte Fahrzeug. Dieser soll mit Mercosur schrittweise sinken. Die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie argumentiert, dass das Abkommen eine große Chance für Autohersteller und Zulieferer bietet. 2023 hat Deutschland nur 20.700 Pkw nach Argentinien und Brasilien exportiert, und sie sieht deutliches Potenzial, diese Exporte zu steigern. Der Vorteil gegenüber China ist erheblich: Chinesische Autobauer müssten dann zehn Prozent mehr Zoll in Südamerika zahlen als die europäische Konkurrenz.

Die Europäische Kommission schätzt, dass das Abkommen die jährlichen EU-Exporte nach Südamerika um bis zu 39 Prozent steigern kann, was 49 Milliarden Euro entsprächen. Insgesamt könnten europäische Unternehmen jährlich um circa vier Milliarden Euro entlastet werden. Nach Angaben der Deutschen Industrie- und Handelskammer exportieren schon jetzt mehr als 8.500 deutsche Betriebe in die Länder des Mercosur, drei Viertel von ihnen sind kleine und mittlere Unternehmen.

Strukturwandel durch Marktzugang: Öffentliche Aufträge und Dienstleistungen

Einer der am wenigsten beachteten, aber potenziell wirkungsvollsten Aspekte des Abkommens betrifft den Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen. Erstmals könnten EU-Unternehmen künftig Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen in den Mercosur-Staaten bekommen, zu gleichen Bedingungen wie lokale Unternehmen. Die Mercosur-Staaten nehmen damit erstmalig eine nennenswerte Öffnung ihrer Märkte für öffentliche Aufträge gegenüber Unternehmen aus der EU vor.

Ein zentraler Grundsatz der Vereinbarung zu öffentlichen Ausschreibungen ist die Nichtdiskriminierung. Anbieter aus den Vertragsstaaten müssen gleichwertig wie inländische Anbieter behandelt werden. Die Nutzung elektronischer Mittel wird besonders hervorgehoben, um den Zugang zu öffentlichen Ausschreibungen zu erleichtern und effizienter zu gestalten. Der öffentliche Beschaffungsmarkt in den Mercosur-Staaten ist bisher massiv geschlossen. Bisher können Mercosur-Regierungen europäische Unternehmen bei öffentlichen Beschaffungsaufträgen von Waren und Dienstleistungen ohne Einschränkung diskriminieren. Durch das Abkommen würde sich der Beschaffungsmarkt der Mercosur-Staaten vor allem auf bundesstaatlicher Ebene für europäische Anbieter öffnen.

Im Dienstleistungssektor beliefen sich die Mercosur-Dienstleistungsexporte in die EU 2023 auf 13,6 Milliarden Euro, während die EU wiederum Dienstleistungen im Wert von 29,8 Milliarden Euro exportierte. Ein vereinfachter Marktzugang für Dienstleistungen erhöht die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen erheblich.

Der Abbau technischer Handelshemmnisse bildet eine weitere wichtige Komponente. Unterschiedliche technische Standards erschweren den Handel erheblich. Viele Maschinen mussten bisher doppelt zertifiziert werden, nach EU-Normen und nach den Regelwerken der Mercosur-Staaten, was regelmäßig zu Verzögerungen, Mehrkosten und Unsicherheit in der Projektplanung führte. Die vermehrte gegenseitige Anerkennung technischer Standards soll ermöglicht werden. Die Vereinfachung bei Produktzertifizierungsverfahren könnte Kosten signifikant senken.

 

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China auf dem Vormarsch, EU unter Zugzwang: Warum das Mercosur-Abkommen jetzt zum Machtfaktor wird

Beschäftigungseffekte und makroökonomische Projektionen im Realitätscheck

Die makroökonomischen Gesamteffekte des Abkommens werden in verschiedenen Studien sehr unterschiedlich bewertet, wobei sich ein Muster abzeichnet: Die Effekte sind positiv, aber moderat, und die methodischen Unsicherheiten sind erheblich.

Eine vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales beauftragte Studie schätzt einen Zuwachs um circa 60.000 Erwerbstätige in Deutschland. Andere Berechnungen gehen von etwa 100.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen in der EU aus. Mit der Umsetzung des Freihandelsabkommens wird in Europa die Schaffung von über 440.000 neuen Arbeitsplätzen erwartet.

Bereits heute gehen rund 240.000 Arbeitsplätze in Deutschland auf Exporte in den Mercosur zurück. Laut Berechnungen der Europäischen Kommission werden allein durch Exporte nach Brasilien 855.000 Arbeitsplätze in der EU gesichert. 60.500 europäische Unternehmen unterhalten Geschäftsbeziehungen mit der Region.

Bei den BIP-Effekten zeigt sich eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen verschiedenen Szenarien und Zeithorizonten. Eine Studie prognostiziert, dass durch das Inkrafttreten des Abkommens das Bruttoinlandsprodukt in der EU bis 2032 um 10,9 Milliarden Euro im konservativen Szenario beziehungsweise um 15 Milliarden Euro im ambitionierten Szenario expandieren würde. Im Mercosur-Raum wird ein BIP-Anstieg um 7,4 Milliarden Euro im konservativen Szenario beziehungsweise 11,4 Milliarden Euro prognostiziert.

Langfristig, nach vollständiger Umsetzung, würde Deutschland nach dem Inkrafttreten ein fast 0,3 Prozent höheres preisbereinigtes BIP aufweisen. Für die EU liegen die langfristigen Werte bei etwas mehr als 0,6 Prozent. Bezogen auf das BIP des Jahres 2024 ergäbe sich für Deutschland ein Absolutbetrag in Höhe von etwas mehr als 29 Milliarden Euro.

Das Institut der deutschen Wirtschaft kommt jedoch zu deutlich bescheideneren Schätzungen. Es prognostiziert, dass die gesamtwirtschaftlichen Effekte für die EU sehr gering seien. Demnach könnte das BIP der EU mithilfe des Abkommens bis 2040 um gerade einmal 0,06 Prozentpunkte ansteigen, trotz der möglichen größten Freihandelszone der Welt. Brasilien könnte sein BIP mit rund 0,46 Prozent am meisten ausbauen.

Verschiedene Simulationen zu den Wachstumseffekten eines Freihandelsabkommens zwischen der EU und den Mercosur-Staaten berechnen langfristige BIP-Zuwächse, die für die EU ebenso wie für die EU-Mitgliedstaaten in den meisten Studien bei 0,1 Prozent und weniger liegen. Diese Schätzungen verdeutlichen, dass Freihandelsabkommen der EU mit einzelnen Ländern oder mit wenigen Ländern lediglich begrenzte Wachstumseffekte haben. Zudem sind spürbare BIP-Effekte erst möglich, wenn auch nicht tarifäre Handelshemmnisse reduziert werden.

Für die positive Entwicklung des BIP zeigt sich insbesondere der Außenbeitrag, also die gestiegenen Exporte, verantwortlich. Auch der im Vergleich zum Referenz-Szenario vermehrte private Konsum sorgt für ein höheres BIP. Soweit die Studien einen leichten Anstieg der Verbraucherpreise in der EU prognostizieren, gehen sie zugleich von einem leichten Anstieg der Reallöhne sowohl in der EU als auch in den meisten Mercosur-Staaten aus.

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Rohstoffdiplomatie und strategische Lieferkettenresilienz

Jenseits der klassischen Handelseffekte gewinnt das Abkommen eine zusätzliche strategische Dimension durch den Zugang zu kritischen Rohstoffen. Die Mercosur-Staaten verfügen über wichtige Rohstoffe und Agrargüter, die Europa für Energie- und Rohstoffwende, Dekarbonisierung, Elektromobilität und Chemieindustrie braucht und zur Diversifizierung weg von China nutzen will.

Die Mercosur-Staaten sind wichtige Rohstofflieferanten für die EU. Argentinien verfügt über bedeutende Lithiumvorkommen, Brasilien über Hafnium, Magnesium, Niobium, Siliciummetall und seltene Erden in Form von Gadolinium. Das Abkommen wird EU-Investitionen in die Entwicklung der lokalen Industrie zur Verarbeitung kritischer Rohstoffe erleichtern.

Der Kontext dieser Rohstoffdiplomatie ist die zunehmende Konzentration bei kritischen Rohstoffen. 95 Prozent des weltweit gewonnenen Lithiums stammen aus nur fünf Ländern. Zudem ist die Verarbeitung der meisten kritischen Rohstoffe stark in China konzentriert. Bei seltenen Erden stammt knapp die Hälfte der Importe aus China, gefolgt von 28 Prozent aus Russland. Unverarbeitetes Lithium kommt heute vor allem aus Chile in die EU, verarbeitetes aus China.

Die EU hat 2021 ihre Strategie für wirtschaftliche Sicherheit verabschiedet, in der es darum geht, innovative Technologien zu fördern, gegen unfaire Handelspraktiken vorzugehen und zentral Beschaffungs- und Absatzmärkte zu diversifizieren. Das Mercosur-Abkommen ist ein Kernbestandteil dieser Strategie. Es würde der EU Zugang zu kritischen Rohstoffen sichern, ohne dabei auf ein einzelnes Land oder eine einzelne Region angewiesen zu sein.

Langfristige Lieferbeziehungen können die strategische Verwundbarkeit der EU gegenüber einseitigen Lieferanten senken. Dies ist besonders wichtig im Kontext des chinesischen Rohstoff-Monopols bei seltenen Erden und der US-Blockadepolitik bei Halbleitern. Kürzlich hat China seinen Export seltener Erden eingeschränkt und dabei Bedingungen gestellt.

Normative Hebelwirkung und multilaterale Signalwirkung

Das Abkommen verankert Kapitel zu Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsstandards und öffentlicher Beschaffung, mit denen die EU ihren Regulierungs-Hebel in Südamerika stärken kann. Es setzt ein Signal für regelbasierten Multilateralismus in einer Zeit globaler Protektionismuswellen und stärkt die Verhandlungsposition der EU gegenüber USA, China und anderen Blöcken.

Die neue Freihandelszone mit mehr als 700 Millionen Einwohnern wäre nach Angaben der EU-Kommission die weltweit größte dieser Art und soll auch ein Zeichen gegen die protektionistische Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump setzen. Sie würde nach Angaben von Ökonomen fast 20 Prozent der Weltwirtschaft und mehr als 31 Prozent der globalen Warenexporte abdecken.

Für die EU ist nun wichtig, dass sich die Bundesregierung auf EU-Ebene für ein zügiges Inkrafttreten des Abkommens einsetzt. Mit einer Verzögerung oder gar einem Scheitern würde die EU ihren hauchdünnen handelspolitischen Vorsprung in dieser Region verspielen. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Eine schnelle Umsetzung könnte zudem Signalwirkung für Freihandelsverhandlungen mit Indien und Indonesien haben. Diese sind weitere wichtige Abkommen, die die deutsche Wirtschaft dringend benötigt, um ihre Lieferketten zu diversifizieren und widerstandsfähiger zu machen.

Geopolitische Machtverschiebungen: Der stille Aufstieg Chinas in Südamerika

Die strategische Dimension des Abkommens wird erst vollständig verständlich, wenn man die fundamentale geopolitische Machtverschiebung in Südamerika der letzten zwei Jahrzehnte betrachtet. China hat sich von einem marginalen Akteur zum dominierenden Wirtschaftspartner der Region entwickelt, mit tiefgreifenden Konsequenzen für die europäische Position.

Um 2017 löste China die EU als zweitwichtigsten Handelspartner der Region nach den Vereinigten Staaten ab. Die Exporte und Importe zwischen China und der Region Lateinamerika und Karibik stiegen zwischen 2000 und 2021 von 12,5 Milliarden US-Dollar auf fast 450 Milliarden US-Dollar. Das Handelsvolumen des Mercosur mit China liegt heute rund 58 Prozent über dem mit der EU. Europas Anteil an den lateinamerikanischen Exporten ist seit 2001 leicht auf 11 Prozent gesunken.

Die Südamerikaner erzielen mit China einen Exportüberschuss von etwa 37 Milliarden Dollar, während sie gegenüber der EU ein Defizit von gut 12 Milliarden Dollar aufweisen. Etwa 69 Prozent der Soja-Exporte und 64 Prozent der Eisenerz-Ausfuhren des Mercosur gehen ins Reich der Mitte. Für die größten Volkswirtschaften Lateinamerikas, darunter Brasilien, Mexiko, Argentinien und Kolumbien, ist China heute einer der wichtigsten Handelspartner.

Zwischen 2005 und 2016 haben chinesische Banken mehr als 140 Milliarden Dollar an Krediten in Lateinamerika vergeben, mehr als die Weltbank und die Inter-Amerikanische Entwicklungsbank zusammen. Chinesische Investitionen haben sich im Zeitraum von 2000 bis 2020 auf 142 Milliarden US-Dollar summiert. Die chinesischen Investitionen in Brasilien stiegen 2024 um 34 Prozent.

Chinas Neue Seidenstraße, die Belt and Road Initiative, wird von US-Geostrategen als Gegenmachtbildung verstanden. Die US-Sicherheitsstrategie vom Dezember 2017 benennt amerikanische Interessen klipp und klar als gefährdet: China versucht, die Region mittels staatlich gelenkter Investitionen und Kredite in seinen Einflussbereich zu ziehen. China wird somit nicht mehr nur als wirtschaftlicher Konkurrent gesehen, sondern auch als geopolitischer Gegner, der mit wirtschaftlichen Mitteln seinen Einfluss in Lateinamerika auszuweiten und lateinamerikanische Regierungen in Abhängigkeit zu bringen sucht.

Die strategische Konkurrenz zwischen den USA und China in Lateinamerika fördert durchaus die Handlungsoptionen Europas. Die EU könnte sich als strategischer Verbündeter anbieten, um lateinamerikanischen Ländern eine Alternative zu bieten. Diese wollen ihre historische Abhängigkeit von den USA nicht gegen eine neue von China eintauschen oder aber in eine doppelte Abhängigkeit zu beiden geraten. Das Mercosur-Abkommen bietet dafür eine Chance.

Trotz der erstarkten Konkurrenz durch China ist Europa gleichwohl wettbewerbsfähig. Zwar hat die EU ihren Platz als zweitwichtigster Handelspartner Lateinamerikas an China verloren, doch sie ist nur auf den dritten Platz zurückgefallen und in einigen Subregionen sogar zweitwichtigster Handelspartner geblieben. Insbesondere Argentinien, Brasilien, Kolumbien und Mexiko sind noch nicht Teil von Chinas Seidenstraßeninitiative und bleiben wichtige Partner der EU in Lateinamerika.

Nach wie vor sind europäische Unternehmen die wichtigsten Investoren in der Region. Die europäischen Direktinvestitionen beliefen sich 2023 auf 384 Milliarden Euro. Die EU ist der bedeutendste Investor in Mercosur. Davon ist auszugehen, dass chinesische Unternehmen in diesen Schlüsselsektoren künftig noch stärker mit europäischen konkurrieren werden.

Die Frage lautet: Wer mit Europa verhandelt, bekommt einen Vortrag. Wer mit China verhandelt, bekommt einen Hafen. Wie viel Wahrheit in dieser Redewendung steckt, zeigt sich aktuell in Peru. Dort kann man quasi in Echtzeit dabei zuschauen, wie Europa geoökonomisch an Boden verliert und China ihn gewinnt. Im Wettbewerb um den Zugang von wichtigen Ressourcen aus Lateinamerika hat China mit dem Hafen Chancay Fakten geschaffen.

Die politische Arithmetik des Scheiterns: Frankreichs Blockadestrategie

Die politische Entscheidung über das Abkommen liegt beim Rat der Europäischen Union, wo eine qualifizierte Mehrheit erforderlich ist. Das bedeutet, dass mindestens 15 der 27 EU-Staaten zustimmen müssen, die zusammen mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung ausmachen.

Aktuell stehen neben Frankreich vor allem Österreich, Italien, Polen und Irland kritisch bis ablehnend dem Abkommen gegenüber. Die deutsche Bundesregierung hat vergangene Woche beschlossen, pro Mercosur-Abkommen zu stimmen. Die Bundesregierung und die deutsche Industrie drängen auf eine rasche Ratifizierung.

Frankreichs Position ist dabei besonders komplex. Präsident Macron veränderte mehrfach seine Position. Im Wahlkampf 2022 versprach er, dem Abkommen nur unter strengsten Auflagen zuzustimmen. Auf der Weltklimakonferenz in Belém äußerte er sich dann positiv zum Abkommen. Jedes Mal folgten Proteste der Landwirte. Kurz vor der erwarteten Abstimmung verlangt Frankreich weitere Nachbesserungen und fordert eine Verschiebung.

Frankreichs Wirtschafts- und Finanzminister konkretisierte die französischen Forderungen: In seiner derzeitigen Form ist der Vertrag nicht akzeptabel. Frankreich stelle drei Bedingungen: Erstens brauche es eine starke und wirksame Schutzklausel. Zweitens müssten die Normen, die in der EU für die Produktion gelten, auch auf die Produktion in den Partnerländern angewendet werden. Drittens seien Importkontrollen nötig. Solange wir keine Zusicherungen in diesen drei Punkten haben, wird Frankreich das Abkommen nicht akzeptieren.

Der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva erhöhte den Druck und drohte damit, das Abkommen während seiner Amtszeit nicht mehr zu unterzeichnen, sollte es jetzt scheitern. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wollte das Abkommen am kommenden Samstag am Rande eines Mercosur-Gipfels in der brasilianischen Stadt Foz do Iguaçu offiziell unterzeichnen.

Frankreichs Präsident Macron warnte vor einer Zustimmung gegen den Willen seines Landes. Dem würde man sich hart entgegenstellen. Auch Italiens Regierungschefin Meloni äußerte Vorbehalte. Es wäre verfrüht, eine Vereinbarung in den kommenden Tagen zu unterzeichnen.

Der aktuelle Protest der französischen Landwirte hat vordergründig wenig mit dem Abkommen zu tun, sondern richtet sich gegen die Regel, alle Rinder einer Herde zu töten, wenn eines von ihnen von der hoch ansteckenden Lumpy-Skin-Krankheit befallen ist. Seit vielen Tagen schon blockieren Tausende Landwirte wichtige Verkehrsachsen im Land. Aber Mercosur befeuert den Frust der Landwirte zusätzlich. Viele Demonstranten geben an, insgesamt gegen die Agrarpolitik aufbegehren zu wollen, sich nicht gehört zu fühlen.

Die mächtigen Bauernverbände wollen das Abkommen verhindern. Sie glauben nicht daran, dass die von Macron versprochenen sogenannten Spiegelklauseln wirklich gelten. Radikalere und stets erfolgreichere Gruppen wie die Coordination Rurale lehnen nicht nur dieses Abkommen, sondern letztlich insgesamt den Freihandel ab. Sie fordern nationale Agrarpolitik, eigene Gesetze und Schutzzölle.

Das Paradox französischer Wirtschaftsinteressen

Die Ironie der französischen Position wird deutlich, wenn man die tatsächlichen wirtschaftlichen Interessen betrachtet. Mit ihrer Anti-Mercosur-Politik agiert die Regierung in Paris gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen. Frankreich ist der größte Agrarproduzent Europas. Die französischen Landwirtschaftsbetriebe produzieren im Jahr 2022 Agrarprodukte im Wert von 88,2 Milliarden Euro. Gleichzeitig ist Frankreich auch ein bedeutender Exporteur von verarbeiteten Lebensmitteln, Wein, Schokolade und Spirituosen, die vom Zollabbau profitieren würden.

Die Unzufriedenheit der Landwirte erstreckt sich über viele Bereiche. Neben der allgemeinen Frustration über die zunehmende politische Reglementierung, strengere Umweltauflagen und ungerechte Produktionsbedingungen kommt nun die Lumpy-Skin-Krankheit hinzu. Diese Situation, zusammen mit dem Mercosur-Abkommen, verstärkt den Frust erheblich.

Wären es nur die Landwirte, die aufbegehren, müsste man sich um Frankreich nicht allzu große Sorgen machen. Doch auch die Regierung präsentiert sich in einem schlechten Licht. Der Freihandel mit Lebensmitteln ist in Europas führendem Agrarland, wo heimische Produkte am Esstisch hoch geschätzt werden, wenig beliebt. Zudem mobilisiert die kleine Gruppe von Rinder- und Geflügelzüchtern besonders stark und treibt die Landwirtschaftsverbände vor sich her.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich nahezu die gesamte politische Elite Frankreichs von den Bauern manipulieren lässt. Selbst im liberalen Lager des Präsidenten wird gegen das Mercosur-Abkommen gewettert. Innenpolitisch könnte die französische Regierung mit ihrer Blockadehaltung verhindern, dass die Bauernproteste weiter angeheizt werden. Dies muss im Kontext der erstarkenden Rechtspopulisten und des landwirtschaftlichen Verbands Coordination Rurale gesehen werden. Dennoch ist das Nachgeben vor den Traktoren nicht mutig und zum Wohle des Landes.

 

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Strukturelle Entscheidungslähmung und europäische Governance-Defizite

Nachhaltigkeit als Vorwand? Entwaldung, Klimarisiken und die Doppelmoral der EU-Handelspolitik

Die Blockade durch Frankreich ist symptomatisch für ein tiefergehendes europäisches Governance-Problem. Frankreich operiert dabei aus einer Position heraus, die zunehmend weniger mit der modernen europäischen Wirtschaftsrealität kongruent ist. Die französischen Forderungen wurden nicht erfüllt, erklärte der französische Premierminister. Frankreich will das Abkommen in seiner jetzigen Form nicht akzeptieren und verlangt zusätzliche Sicherheiten für seine Landwirte.

Die französische Bauernlobby und kurzfristige innenpolitische Befindlichkeiten in Paris oder Wien stehen in keinem angemessenen Verhältnis zu den langfristigen strategischen Interessen Europas. Diese Erkenntnis ist eine schmerzhafte, aber notwendige Lehre für die europäischen Führungsebenen: Wenn kurzfristige Rücksichten auf nationale Lobbygruppen europäisches Handeln blockieren, führen sie zwangsläufig zu langfristigen strategischen Niederlagen.

Es überrascht daher nicht, dass Bundeskanzler Friedrich Merz sich zu Beginn des Gipfels für das Abkommen einsetzte: Die Entscheidung kann nur lauten, Europa zustimmt. Vielmehr stellt sich die Frage, wie es den Bauern gelingt, ein so geopolitisch relevantes Abkommen zu blockieren. Denn trotz ihrer Protestbereitschaft macht die Landwirtschaft in Ländern wie Frankreich und Italien nur einen Anteil von ein bis zwei Prozent an der Wertschöpfung aus.

Die EU berücksichtigt die Anliegen der Landwirte durchaus. Das Abkommen mit den Mercosur-Ländern beinhaltet Schutzklauseln, die der EU-Kommission erlauben, die Einfuhren sensibler Produkte wie Rindfleisch und Geflügel zu begrenzen, wenn deren Einfuhr stark ansteigt. Diese Regelung tritt in Kraft, sobald der Anstieg mehr als acht Prozent beträgt. Ministerrat und Europaparlament haben sich rechtzeitig zum EU-Gipfel am späten Mittwochabend darauf geeinigt.

Den Vorwurf der Landwirtschaft, dass südamerikanische Produzenten von laxeren Umweltauflagen profitieren, lässt ein Experte unbeeindruckt. Zwar gibt es Unterschiede bei Löhnen und Bodenpreisen, aber die EU legt für importierte Lebensmittel grundsätzlich die gleichen Standards und Sicherheitsvorgaben an wie für die heimische Produktion. Aus Verbraucherschutzsicht besteht daher kein erhöhtes Risiko.

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Die Kosten des Scheiterns: Was Europa zu verlieren hat

Für die europäische Zukunft wäre ein Scheitern des Mercosur-Abkommens ein Desaster. Es würde demonstrieren, dass die EU nicht in der Lage ist, ihre eigenen Strategien umzusetzen. Es würde zeigen, dass einzelne Länder unter innenpolitischem Druck Europas Gesamtinteressen sabotieren können. Dies würde das Vertrauen nicht nur Südamerikas, sondern auch anderer potenzieller Handelspartner, Asien, Nahost, in die europäische Zuverlässigkeit massiv beschädigen.

Sollte die EU tatsächlich scheitern, das Mercosur-Abkommen zu unterzeichnen, hätte dies erhebliche Konsequenzen für die europäische Positionierung. Das Abkommen ist für die EU tatsächlich die absehbar letzte Chance, geopolitisch eine Position der Stärke einzunehmen in einer Region, in der europäische Einflussmöglichkeiten zunehmend schwinden.

Dieser Prozess würde sich selbstverstärkend fortsetzen. Je weniger die EU in Südamerika präsent ist, desto weniger Bedeutung hat sie als Gesprächspartner. Desto weniger profitieren europäische Unternehmen von lokalen Investitionsmöglichkeiten und Rohstoffzugängen. Desto mehr werden die südamerikanischen Länder zu Appendizes der chinesischen Rohstoffversorgungskette oder der US-amerikanischen geopolitischen Interessensphäre.

Die europäische Strategie für wirtschaftliche Sicherheit soll durch Diversifizierung der Handelspartner umgesetzt werden. Doch wenn einzelne europäische Staaten durch Blockadepolitik verhindern, dass die EU mit wichtigen Regionen Abkommen schließt, wird diese Strategie zur Illusion.

Ohne Abkommen könnte Europa noch weniger Einfluss auf die Umweltpolitik in den Mercosur-Staaten nehmen. Zudem würde die Region vollkommen China als wichtigstem Handelspartner überlassen. Ein Handelsdeal, der Entwaldung und die Klimakrise beschleunigt, kann per se keine neue Stabilität erzeugen, argumentieren Kritiker. Aber die Alternative, nämlich gar kein Abkommen und damit keinerlei Hebel, erscheint noch problematischer.

Kompensationsfonds und die Ökonomie politischer Beruhigung

Um den Widerstand der Agrarländer zu überwinden, wird außerdem über einen Kompensationsfonds diskutiert, der Risiken für die europäische Landwirtschaft abfangen soll. FPÖ-EU-Mandatar Haider spricht von einem milliardenschweren Kompensationsfonds für Bauern, der als Beruhigungspille für Macron dienen soll.

Die Idee eines solchen Fonds wirft grundsätzliche Fragen auf. Wenn die prognostizierten Schäden für die europäische Landwirtschaft tatsächlich so gering sind, wie viele Ökonomen behaupten, warum ist dann ein milliardenschwerer Kompensationsfonds nötig. Wenn die Schäden hingegen tatsächlich erheblich sind, würde ein Kompensationsfonds die strukturellen Probleme nur überdecken, nicht lösen.

Die Logik der Kompensation offenbart das politische Dilemma: Die EU zahlt faktisch dafür, dass ein volkswirtschaftlich vorteilhaftes Abkommen nicht an der Opposition einer kleinen Branchengruppe scheitert. Dies setzt einen bedenklichen Präzedenzfall für künftige Verhandlungen.

Asymmetrische Effekte: Die Mercosur-Perspektive

Während die Debatte in Europa von Agrarängsten dominiert wird, sehen die Perspektiven aus Sicht der Mercosur-Staaten deutlich anders aus. Das Mercosur-Mitglied Argentinien verzeichnet 2024 eine Wachstumsrate von geschätzt rund -1,3 Prozent, nachdem das südamerikanische Land 2022 noch um etwa fünf Prozent wuchs. Die übrigen Mercosur-Länder verzeichneten 2023 positive Wachstumsraten: Die Wirtschaftskraft von Paraguay steigt mit rund 4,7 Prozent, Uruguays BIP steigt um etwa 0,4 Prozent und Brasiliens Wirtschaft wächst geschätzt um rund 2,9 Prozent.

Argentinien befindet sich bereits seit 2018 in einer Rezession. Die jährliche Inflationsrate im Jahr 2023 beträgt rund 133,5 Prozent, für 2024 wird sie auf rund 230 Prozent prognostiziert. Nachdem der rechtspopulistische, selbsternannte Anarcho-Kapitalist Javier Milei im November 2023 die Präsidentschaftswahlen in Argentinien gewinnen konnte, hat er extreme Sparmaßnahmen eingeleitet. Dadurch dürften sich Armut und Ungleichheit im Land weiter erhöhen.

Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 2,4 Billionen US-Dollar ist der Mercosur gleichzeitig der fünftgrößte Wirtschaftsraum der Welt. Brasilien ist das ökonomische Schwergewicht des Blocks, denn es erwirtschaftet 75 Prozent des gemeinsamen BIP. Zudem konzentrieren sich 86 Prozent aller ausländischen Direktinvestitionen auf das 211 Millionen-Einwohner-Land.

Seit 2016 vollzieht Brasilien einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel: Das bislang weitgehend abgeschottete Land öffnet sich, vor allem seit dem Regierungswechsel 2018 ist die neue Stoßrichtung deutlich erkennbar. Während Brasiliens Wirtschaft 2020 wieder ein robusteres Wachstum von 2 Prozent erwartet, haben sich die Aussichten im Nachbarland Argentinien deutlich eingetrübt.

Für die Mercosur-Staaten bedeutet das Abkommen vor allem Zugang zum europäischen Markt für ihre Agrarprodukte und Rohstoffe, aber auch Herausforderungen für ihre noch junge Industrie. Die Zollabbau könnte nach Einschätzung von Kritikern zu einer Deindustrialisierung führen, da europäische Industrieprodukte südamerikanische Hersteller unter Druck setzen. Kritiker des Abkommens argumentieren, dass es ein auf Verbrenner und Individualverkehr ausgerichtetes Verkehrssystem einzementiert und eine rückwärtsgewandte Mobilitäts- und Handelspolitik repräsentiert.

Nachhaltigkeitsrhetorik und Entwaldungsrealität

Das vielleicht heikelste Thema in der öffentlichen Debatte betrifft die Umwelt- und Klimaauswirkungen des Abkommens, insbesondere die Entwaldung im Amazonas-Regenwald. Die erste politische Einigung stieß innerhalb der EU auf massiven Widerstand, da insbesondere die stark steigenden Entwaldungsraten im Amazonas-Regenwald für heftige Proteste sorgten.

Die EU legte 2023 einen Vorschlag für ein Zusatzinstrument vor, das Nachhaltigkeitsfragen adressieren sollte. Ziel war es, insbesondere die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens sicherzustellen und die fortschreitende Entwaldung einzudämmen. Brasilien verpflichtete sich, bis 2030 die Entwaldung stoppen zu wollen.

Die EU-Entwaldungsverordnung verbietet den Import von Waren in die EU, die mit Entwaldung in Zusammenhang stehen. Die südamerikanische Staatengemeinschaft sah sich damit bevormundet und benachteiligt. Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass der neu geschaffene Ausgleichsmechanismus im zentralen Schiedsgerichtsverfahren verankert ist und den Staaten ein Recht auf Kompensationen gewährt, wenn EU-Gesetze wie die Entwaldungsverordnung ihre Handelsvorteile einschränken sollten.

Im neuen Anhang wird festgeschrieben, dass Informationen zur Legalität und Nachhaltigkeit von Mercosur-Produkten, die von den zuständigen Behörden geliefert werden, von den EU-Behörden als zuverlässig anzuerkennen sind. Zudem soll das EU-Mercosur-Abkommen, sollte es ratifiziert werden, bei der von Seite der EU vorzunehmenden Einteilung von Staaten hinsichtlich des Risikos, dass gehandelte Produkte im Zusammenhang mit Entwaldung stehen könnten, eine Rolle spielen.

Durch den Abbau von Zöllen sowie Erhöhung von Exportquoten aus den Mercosur-Ländern für Agrarprodukte wie Rindfleisch, die von einem hohen Anteil an illegaler Entwaldung geprägt sind, droht die weitere Entwaldung des Amazonas-Regenwaldes, der im vergangenen Jahr wieder ein besorgniserregendes Ausmaß an Waldbränden verzeichnete. Auch die Cerrado-Savanne ist bedroht.

Das Problem liegt darin, dass Passagen zu Klimaschutz und Menschenrechten im Abkommen nicht sanktioniert werden können. Die Nachhaltigkeitsstandards unterliegen nicht dem allgemeinen Streitbeilegungsverfahren des Abkommens. Damit zementiert das Handelsabkommen eine nicht-nachhaltige Wirtschaftsweise, produziert mehr Emissionen und heizt damit den Klimawandel an, argumentieren Kritiker.

Die institutionelle Zeitbombe: Ratifizierung und Splitting

Eine weitere Komplexität betrifft die institutionellen Modalitäten der Ratifizierung. Das Abkommen tritt erst vollständig in Kraft, wenn der Europäische Rat, das Europäische Parlament sowie alle Parlamente der 27 EU-Mitgliedstaaten zustimmen. Dieser Prozess könnte Jahre dauern und jederzeit scheitern, wenn auch nur ein nationales Parlament die Zustimmung verweigert.

Würde das Abkommen aufgespaltet, wäre für den Handelsteil auch nur die qualifizierte Mehrheit im EU-Rat und keine Zustimmung nationaler Parlamente erforderlich. Der Bayerische Bauernverband lehnt eine solche Verfahrensänderung ab. Die Frage des Splitting ist politisch hochbrisant, da sie die demokratische Legitimation mit der Handlungsfähigkeit der EU in Konflikt bringt.

Für den handelspolitischen Teil könnte eine vorläufige Anwendung beschlossen werden, während die umfassenderen Teile des Assoziierungsabkommens den nationalen Ratifizierungsprozess durchlaufen. Dies würde zumindest die wirtschaftlichen Vorteile kurzfristig realisierbar machen, birgt aber das Risiko, dass die politischen Zusagen zu Nachhaltigkeit und Menschenrechten dauerhaft unverbindlich bleiben.

Deutschland zwischen industriellem Pragmatismus und agrarpolitischer Rücksichtnahme

Die deutsche Position im Mercosur-Konflikt ist von einer bemerkenswerten Klarheit geprägt. Das Bundeskabinett stimmte bereits einer Unterzeichnung des Abkommens zu. Die deutschen Wirtschaftsverbände drängen auf eine schnelle Unterzeichnung. Die Deutsche Industrie- und Handelskammer forderte die Bundesregierung auf, sich entschlossen für einen Abschluss des Abkommens einzusetzen.

Diese Eindeutigkeit resultiert aus der spezifischen Struktur der deutschen Wirtschaft. Deutschland ist als führende Exportnation in den Bereichen Maschinenbau, Automobil und Chemie besonders stark von hohen Importzöllen in Drittstaaten betroffen. Etwa 12.500 deutsche Betriebe exportieren in die vier südamerikanischen Staaten, davon sind rund 70 Prozent kleine und mittlere Unternehmen.

Vom Abbau der Handelsschranken würden insbesondere Maschinenbauer, Autohersteller und die Ernährungsindustrie profitieren. Insgesamt beliefen sich die EU-Exporte in die Mercosur-Länder 2022 laut der EU-Statistikbehörde auf 56,3 Milliarden Euro, Waren und Dienstleistungen für 64,3 Milliarden Euro kamen von dort in die EU.

Bereits heute hängen etwa 405.000 deutsche Arbeitsplätze in der Industrie direkt vom Endverbrauch in China ab. Angesichts zunehmend protektionistischer Tendenzen großer Volkswirtschaften wie China und den USA wird eine engere Zusammenarbeit mit dem Globalen Süden, einschließlich der Mercosur-Staaten, als notwendig erachtet.

Deutschland und Frankreich haben ihre Wirtschaftspolitik neu ausgerichtet, insbesondere durch einen aktiven Einsatz für das Zustandekommen einer europäischen Industriestrategie und einer Derisking-Politik. Doch während Deutschland im Mercosur-Abkommen ein Instrument dieser Diversifizierungsstrategie sieht, blockiert Frankreich aus innenpolitischen Gründen genau diese Strategie.

Der Kontrast zwischen deutscher und französischer Position spiegelt auch unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungen wider. Während die französische Wirtschaft 2023 um ein Prozent gewachsen sein dürfte, ist das deutsche BIP geschrumpft und wird 2024 nur minimal zulegen. Diese divergierenden Entwicklungsverläufe lassen sich auf verschiedene Faktoren zurückführen, wobei das französische Präsidialsystem es Präsident Emmanuel Macron erlaubt, klare Prioritäten zu setzen und neue Maßnahmen rasch umzusetzen.

Trotz dieser Unterschiede haben die französische und die deutsche Volkswirtschaft viel mehr gemein als im Allgemeinen anerkannt wird. Während sich Frankreich in den letzten vier Jahren wirtschaftlich besser entwickelt hat als Deutschland, ist es noch immer dabei, zu Deutschland aufzuschließen, das in den 2010er Jahren einen bemerkenswerten Wirtschaftsaufschwung erlebte. Insbesondere hat Deutschland eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa, und seine Unternehmen haben sich ihre hohen globalen Marktanteile bewahrt.

Das Vermächtnis einer verpassten Chance

Das Mercosur-Abkommen steht exemplarisch für die strukturellen Dilemmata europäischer Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert. Ein Vertrag, der nach rationalen volkswirtschaftlichen Kriterien überwältigend vorteilhaft erscheint, droht an der politischen Mobilisierungskraft kleiner Interessengruppen zu scheitern. Die Diskrepanz zwischen volkswirtschaftlicher Vernunft und politischer Durchsetzbarkeit könnte kaum größer sein.

Die wirtschaftlichen Fakten sind eindeutig: Das Abkommen würde europäischen Unternehmen jährlich etwa vier Milliarden Euro an Zollersparnissen bringen, den Zugang zu einem Markt von über 700 Millionen Menschen ermöglichen, strategisch wichtige Rohstoffbeziehungen diversifizieren und ein geopolitisches Signal gegen den wachsenden Einfluss Chinas in Südamerika setzen. Die befürchteten Nachteile für die europäische Landwirtschaft bewegen sich in einer Größenordnung von wenigen Prozentpunkten bei einzelnen Produkten und könnten durch Schutzklauseln und Kompensationsmechanismen abgefedert werden.

Die politische Realität ist jedoch eine andere. Frankreich nutzt seine Vetomacht im Rat, um ein Abkommen zu blockieren, das gegen die eigenen langfristigen wirtschaftlichen Interessen verstößt, aber kurzfristig innenpolitisch opportun erscheint. Die europäische Governance-Struktur erweist sich als unfähig, gesamteuropäische Interessen gegen partikulare nationale Widerstände durchzusetzen.

Das eigentliche Paradox liegt darin, dass die EU durch das Scheitern des Abkommens genau jene strategische Verwundbarkeit verschärft, die sie durch das Abkommen reduzieren wollte. Ohne Mercosur bleibt Europa in seiner Abhängigkeit von China bei kritischen Rohstoffen gefangen, verliert weiter an Boden in Südamerika und sendet ein verheerendes Signal an andere potenzielle Handelspartner: Verhandlungen mit der EU können scheitern, selbst wenn sie technisch abgeschlossen sind, weil innenpolitische Partikularinteressen stärker wiegen als gesamteuropäische Strategien.

Für die deutsche Wirtschaft würde ein Scheitern bedeuten, dass Exportchancen im Wert von Milliarden Euro ungenutzt bleiben, während chinesische Wettbewerber ihre Position in Südamerika weiter ausbauen. Für die europäische Geopolitik würde es bedeuten, dass der Kontinent seine letzte realistische Chance verpasst, in einer strategisch wichtigen Region noch eine relevante Rolle zu spielen.

Die Entscheidung über das Mercosur-Abkommen wird daher weit mehr sein als eine handelspolitische Weichenstellung. Sie wird zeigen, ob Europa in der Lage ist, langfristig zu denken und zu handeln, oder ob kurzfristige innenpolitische Kalküle die strategische Handlungsfähigkeit dauerhaft lähmen. Es geht letztlich um die Frage, ob die Europäische Union als globaler Akteur noch ernst genommen werden kann oder ob sie zu einem Spielball partikularer Interessen degradiert wird, der unfähig ist, seine eigenen Strategien umzusetzen.

Das Urteil der Geschichte über diese Entscheidung wird hart sein, unabhängig davon, wie sie ausfällt. Kommt das Abkommen trotz aller Widerstände zustande, wird es als Beleg dafür gelten, dass Europa auch unter widrigsten Bedingungen noch handlungsfähig ist. Scheitert es, wird es als Menetekel für den endgültigen Niedergang europäischer Gestaltungsmacht in einer multipolaren Weltordnung in die Geschichtsbücher eingehen.

 

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