Veröffentlicht am: 26. Juni 2025 / Update vom: 26. Juni 2025 – Verfasser: Konrad Wolfenstein
Oberflächliche Berichterstattung übersieht: Trumps NATO-Analyse trifft den Kern europäischer Verteidigungsdefizite
Europas Erwachen aus der sicherheitspolitischen Bequemlichkeit
Die kritisierten Schlagzeilen über den “Schleimer-Gipfel” und die “Unterwürfigkeit” der NATO-Partner gegenüber Donald Trump verfehlen die eigentliche Dimension der aktuellen sicherheitspolitischen Entwicklungen. Diese oberflächliche Darstellung übersieht die fundamentalen Schwachstellen der europäischen Verteidigungsarchitektur, die Trump mit seiner direkten Kritik schonungslos aufgedeckt hat.
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Die Realität der europäischen Verteidigungsabhängigkeit
Die strukturelle Abhängigkeit Europas von den USA ist tatsächlich gravierender als in der öffentlichen Debatte oft diskutiert. Die europäischen NATO-Staaten sind derzeit nicht in der Lage, ohne amerikanische Unterstützung einen Großverband wie ein Korps mit bis zu 50.000 Soldaten zu führen. Diese Führungsschwäche erstreckt sich über alle militärischen Dimensionen: von der strategischen Planung bis zur operativen Umsetzung.
Die USA fungieren als unverzichtbarer Integrator der verschiedenen nationalen Streitkräfte Europas. Nur die USA verfügen über die notwendigen Strukturen, Kommandozentren, Führungssysteme und die dazugehörigen Stäbe, um die Aktivitäten der gesamten NATO im Ernstfall effektiv und effizient zu koordinieren. Diese Führungsfähigkeiten sind zusätzlich mit strategischen Unterstützungskräften wie AWACS-Flugzeugen und Tankflugzeugen unterlegt – Fähigkeiten, über die die Europäer nur in sehr geringem Maße verfügen.
Strukturelle Defizite in Zahlen
Eine aktuelle Analyse des Kieler Instituts für Weltwirtschaft und des Brüsseler Forschungsinstituts Bruegel verdeutlicht das Ausmaß der europäischen Abhängigkeit: Sollten sich die USA zurückziehen, müssten die Europäer etwa 50 zusätzliche Brigaden mit insgesamt 300.000 Soldaten aufstellen. Hierfür wären mindestens 1.400 neue Kampfpanzer und 2.000 Schützenpanzer erforderlich – was die derzeitigen Bestände der gesamten deutschen, französischen, italienischen und britischen Landstreitkräfte übersteigt.
Die finanziellen Dimensionen sind ebenso beeindruckend: Für eine eigenständige europäische Verteidigung wären erhebliche Investitionen von rund 250 Milliarden Euro jährlich notwendig. Dies entspricht einer Erhöhung der europäischen Verteidigungsausgaben von derzeit zwei Prozent auf 3,5 bis vier Prozent der Wirtschaftskraft.
Die NATO-Beschlüsse von Den Haag als strategische Notwendigkeit
Der NATO-Gipfel in Den Haag hat mit der Vereinbarung des Fünf-Prozent-Ziels eine historische Wende eingeleitet. Die NATO-Staaten verpflichten sich, spätestens ab 2035 jährlich fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Verteidigung und Sicherheit zu investieren. Diese drastische Erhöhung von bisher zwei Prozent wird dabei differenziert: 3,5 Prozent für Kernbereiche der Verteidigung wie Truppen und Waffen, weitere 1,5 Prozent für erweiterte sicherheitsrelevante Investitionen wie Cybersicherheit und militärisch nutzbare Infrastruktur.
Diese Entscheidung ist keineswegs opportunistische Unterwürfigkeit, sondern eine längst überfällige Anpassung an die veränderte sicherheitspolitische Realität. 2024 gaben nur 22 der 32 NATO-Mitglieder zwei Prozent oder mehr ihres BIP für Verteidigung aus. Polen führte mit mehr als vier Prozent, während Spanien mit weniger als 1,3 Prozent am unteren Ende rangierte.
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Technologische Abhängigkeiten als strategisches Risiko
Die Abhängigkeit Europas von amerikanischen Schlüsseltechnologien stellt ein erhebliches strategisches Risiko dar. Viele der modernsten Waffensysteme, die von europäischen Ländern eingesetzt werden, wie die F-35-Kampfjets und Patriot-Abwehrsysteme, sind auf kontinuierliche Unterstützung aus den USA angewiesen. Diese Systeme benötigen regelmäßige Software-Updates, GPS-Freigaben und Kommunikationssignale aus amerikanischen Netzwerken.
Ein besonders kritisches Beispiel sind die F-35-Kampfjets: Die vollständige Kontrolle über die Software dieser Jets liegt in den Händen des US-Herstellers Lockheed Martin, wodurch die US-Armee die IT-Systeme jederzeit deaktivieren könnte. Diese technologische Abhängigkeit erstreckt sich auch auf Satellitennavigation, wo Europa trotz des eigenen Galileo-Systems nach wie vor stark auf amerikanische GPS-Dienste angewiesen ist.
Die fragmentierte europäische Verteidigungsindustrie
Die strukturellen Probleme der europäischen Verteidigungsindustrie verstärken die Abhängigkeit von den USA zusätzlich. Die Produktion von Rüstungsgütern in den EU-Ländern ist stark zersplittert und bedient mehrgleisige, ineffiziente Strukturen. Diese Fragmentierung führt zu höheren Kosten, längeren Entwicklungszeiten und reduzierten Skaleneffekten.
Ein konkretes Beispiel für diese Problematik zeigt sich bei der Munitionsproduktion: Deutschland steht mit einem Munitionsdefizit nicht alleine da – selbst eine Woche Munitionsvorrat wäre für die Bundeswehr bereits Wunschdenken. Die NATO gibt als Ziel 30 Tage Munitionsvorrat vor, doch für Deutschland ist dies derzeit “noch undenkbar”.
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Bedrohungsszenarien: Russland und China
Die Bedrohungslage hat sich seit 2022 fundamental verschärft. Russland hat trotz hoher Verluste im Ukraine-Krieg seine militärischen Kapazitäten massiv gesteigert und verzeichnete Ende 2024 etwa 700.000 Soldaten in der Ukraine – deutlich mehr als bei der groß angelegten Invasion 2022. Gleichzeitig wurden 2024 etwa 1.550 neue Panzer und 5.700 gepanzerte Fahrzeuge produziert oder instand gesetzt.
China stellt eine zusätzliche strategische Herausforderung dar. Als zweitgrößte Militärmacht der Welt arbeitet China seit Jahren an der Modernisierung seines Militärs, das bis 2050 zu einer “Weltklasse”-Armee umgebaut werden soll. Besonders besorgniserregend ist Chinas Unterstützung für Russland: China hat seine eigenen roten Linien überschritten und liefert mittlerweile tödliche Drohnen an Russland.
NATO-Europa ohne USA: Die militärische Realität
Eine aktuelle Greenpeace-Studie zeigt, dass NATO-Europa auch ohne die USA militärisch überlegen gegenüber Russland ist. Die europäischen NATO-Partner verfügen ohne die USA und Kanada über 2.073 Kampfflugzeuge, während Russland 2.141 besitzt. Beim Militärbudget übersteigen die europäischen NATO-Staaten Russland ebenfalls deutlich.
Dennoch bestehen gravierende Schwachstellen: Europa verfügt auf dem Papier über rund eine Million nicht anderweitig gebundene Bodentruppen, doch in der Praxis ist diese Zahl deutlich niedriger. Nur wenige Länder kommen auf annähernd 100.000 aktive Soldaten. Frankreich und Griechenland führen mit rund 98.000 bzw. 92.000 Soldaten, gefolgt von Italien und Polen mit jeweils etwa 89.000.
Munitions- und Produktionsdefizite
Die europäische Rüstungsproduktion hinkt den Anforderungen dramatisch hinterher. Europa verbraucht im Ukraine-Krieg jeden Tag mehr Munition, als produziert werden kann. Ex-General Marc Thys warnte eindringlich: “Es ist kein Witz, wir stecken tief in der Scheiße. Es wird noch fünf bis sieben Jahre dauern, um die westliche Industrie so aufzurüsten, dass sie abschreckungsfähig ist”.
Deutschland bemüht sich um Abhilfe: Rheinmetall will seine Kapazität bei Artillerie-Munition bis 2026 verzwanzigfachen. Ein Rahmenvertrag mit der Bundeswehr für Artillerie-Munition umfasst Geschosse im Wert von bis zu 8,5 Milliarden Euro. Dennoch bestehen systemische Probleme: Deutschland kauft oft nur Geschosse statt kompletter Schüsse, was die operative Einsatzfähigkeit einschränkt.
Nukleare Dimension der Abhängigkeit
Die nukleare Abschreckung Europas basiert fast ausschließlich auf den Atomwaffen der USA im Rahmen der nuklearen Teilhabe. US-amerikanische Atomwaffen lagern in Belgien, Italien, den Niederlanden, der Türkei und Deutschland. Trumps wiederholte Infragestellung der NATO-Beistandspflicht hat eine Debatte über europäische Atomwaffen ausgelöst, einschließlich einer möglichen Europäisierung des französischen Nuklearschirms oder sogar einer nuklearen Bewaffnung Deutschlands.
Trumps berechtigte Kritik
Die oberflächliche Kritik an den NATO-Partnern als “Schleimer” verkennt die strategische Dimension der aktuellen Entwicklungen. Trumps Kritik an unzureichenden europäischen Verteidigungsbeiträgen ist nicht nur berechtigt, sondern strategisch notwendig. Jahrzehntelang haben sich die Europäer in der sicherheitspolitischen Bequemlichkeit eingerichtet und ihre Verteidigungsfähigkeiten vernachlässigt.
Die strukturellen Abhängigkeiten von amerikanischen Führungsfähigkeiten, Schlüsseltechnologien und logistischen Kapazitäten sind so gravierend, dass Europa ohne fundamentale Reformen nicht in der Lage wäre, seine Sicherheitsinteressen eigenständig zu verteidigen. Die Beschlüsse von Den Haag markieren nicht Unterwürfigkeit, sondern den überfälligen Beginn einer strategischen Neuausrichtung.
Europa muss sich der Realität stellen: Die Zeit der sicherheitspolitischen Bequemlichkeit ist vorbei
. Die geopolitischen Herausforderungen durch Russland und China, kombiniert mit der amerikanischen Hinwendung zum Indo-Pazifik, erfordern eine fundamentale Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeiten. Trumps “Wachrütteln” war nicht nur gerechtfertigt, sondern strategisch notwendig für Europas sicherheitspolitische Zukunft.
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