Veröffentlicht am: 21. Juni 2025 / Update vom: 21. Juni 2025 – Verfasser: Konrad Wolfenstein
Digitale Unabhängigkeit: Europas radikaler Plan, sich von den USA zu lösen – Der Fall Karim Khan war ein Weckruf – Bild: Xpert.Digital
Paukenschlag in Brüssel: EU will Microsoft den Rücken kehren – das sind die Alternativen
Schluss mit der Abhängigkeit? Was Europas Kampf um die Daten-Hoheit für uns alle bedeutet
Die Europäische Union steht vor einem bedeutsamen Wendepunkt in ihrer digitalen Strategie. Was als reine Überlegung begann, entwickelt sich zunehmend zu einer konkreten Neuausrichtung der europäischen Cloud-Politik, die weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Technologiebranche haben könnte.
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Die aktuelle Ausgangslage: Abhängigkeit von amerikanischen Tech-Giganten
Die EU-Kommission befindet sich derzeit in fortgeschrittenen Verhandlungen mit OVHcloud, dem größten europäischen Cloud-Dienstleister, über eine mögliche Ablösung ihrer bisherigen Microsoft Azure-Infrastruktur. Diese Gespräche, die bereits seit mehreren Wochen andauern, sind Teil einer umfassenderen Strategie zur Stärkung der europäischen digitalen Souveränität im Cloud-Bereich.
Die Entscheidung kommt nicht überraschend, wenn man die aktuelle Marktlage betrachtet. Europäische Unternehmen und Institutionen sind seit Jahren stark von amerikanischen Cloud-Anbietern wie Amazon Web Services, Microsoft Azure und Google Cloud abhängig. Diese Abhängigkeit hat sich in einer Zeit geopolitischer Spannungen als problematisch erwiesen, da sie europäische Organisationen den rechtlichen und politischen Einflüssen der Vereinigten Staaten unterwirft.
Der Weckruf: Der Fall Karim Khan
Ein besonders einschneidendes Ereignis verstärkte die Dringlichkeit der Debatte um digitale Souveränität erheblich. Karim Khan, der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, wurde aufgrund von US-Sanktionen von seinem Microsoft-basierten E-Mail-Konto ausgeschlossen. Diese Maßnahme erfolgte, nachdem die Trump-Administration Sanktionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof verhängt hatte, um Ermittlungen gegen israelische Aktionen im Gaza-Streifen zu unterbinden.
Microsoft sperrte Khans E-Mail-Account kurzerhand, was den britischen Staatsanwalt dazu zwang, zu einem Schweizer E-Mail-Anbieter zu wechseln. Gleichzeitig wurden seine Bankkonten eingefroren und allen 900 Mitarbeitern des Internationalen Strafgerichtshofs wurde die Einreise in die Vereinigten Staaten untersagt. Dieses Vorgehen wird von Experten als beispiellos bezeichnet und hat als Weckruf für alle gedient, die für die sichere Verfügbarkeit staatlicher und privater IT-Infrastrukturen verantwortlich sind.
Der Vorfall verdeutlichte auf dramatische Weise die Risiken, die mit der Abhängigkeit von amerikanischen Technologieunternehmen verbunden sind. Diese können jederzeit gezwungen werden, ihre Dienstleistungen einzustellen, wenn die US-Regierung dies anordnet.
Die europäische Antwort: Strukturelle Veränderungen in der EU-Kommission
Die Reaktion der EU-Kommission auf diese Herausforderungen wurde durch eine wichtige organisatorische Neuerung ermöglicht. Erstmals unterstehen beide zentralen Digitalabteilungen der Kommission – die Generaldirektion für Kommunikationsnetze, Inhalte und Technologien sowie die Generaldirektion für digitale Dienste – einer einzigen Kommissionsvizepräsidentin.
Henna Virkkunen, die finnische Politikerin, die für technologische Souveränität, Sicherheit und Demokratie zuständig ist, verkörpert diese neue strategische Ausrichtung. In einem Interview betonte sie, dass technologische Souveränität bedeute, in allen wichtigen Sektoren über eigene Kapazitäten zu verfügen und bei kritischen Dienstleistungen nicht von einem Unternehmen oder Drittstaat abhängig zu sein. Diese Konsolidierung der Verantwortlichkeiten hat es erheblich erleichtert, die politischen und technischen Prioritäten der EU-Exekutive zu harmonisieren.
Rechtliche Probleme mit Microsoft: Datenschutzverstöße
Parallel zu den geopolitischen Bedenken haben sich auch erhebliche rechtliche Probleme mit Microsoft ergeben. Der EU-Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiórowski stellte nach einer dreijährigen Untersuchung fest, dass die EU-Kommission mit der Nutzung von Microsoft 365 gegen mehrere Bestimmungen der speziellen Datenschutzverordnung für EU-Institutionen verstoßen hat.
Die Hauptkritikpunkte betrafen die unzureichenden Schutzmaßnahmen für die Übertragung personenbezogener Daten in Drittstaaten wie die USA sowie die mangelnde Spezifikation der zu erhebenden Datenarten und deren Verwendungszwecke. Wiewiórowski forderte die Kommission auf, bis Dezember 2024 alle Datentransfers zu Microsoft und dessen Partnern in Nicht-EU-Ländern zu stoppen.
Die EU-Kommission reagierte auf diese Vorwürfe, indem sie den Datenschutzbeauftragten verklagte und betonte, dass ihre Nutzung von Microsoft 365 im Einklang mit den Datenschutzgesetzen stehe. Gleichzeitig argumentierte sie, dass es keine brauchbaren Alternativen gebe. Dieser Rechtsstreit verdeutlicht die komplexen Herausforderungen beim Übergang zu souveränen Cloud-Lösungen.
Die EuroStack-Initiative: Eine Vision für europäische Technologie-Unabhängigkeit
Die Bestrebungen der EU-Kommission werden von der EuroStack-Initiative unterstützt, einer branchengeführten Bewegung, die eine umfassende europäische digitale Infrastruktur anstrebt. Diese Initiative, die bereits über 250 Unterzeichner aus verschiedenen Branchen vereint, fordert massive Investitionen in gemeinsame IT-Plattformen, Datenräume, Standards und koordinierte Strategien.
EuroStack versteht sich nicht nur als technische Initiative, sondern als umfassende industriepolitische Vision für Europa. Die Bewegung argumentiert, dass Europa Gefahr läuft, zu einer digitalen Kolonie zu werden, wenn es nicht in eigene technologische Kapazitäten investiert. Francesco Bonfiglio, CEO der italienischen Cloud-Plattform Dynamo, betont, dass die Hegemonie der Tech-Giganten, insbesondere im Cloud-Bereich, eine grundlegende Bedrohung für die europäische Wirtschaft und Demokratie darstellt.
Europäische Cloud-Alternativen: Die Konkurrenten im Überblick
Die EU-Kommission prüft nicht nur OVHcloud als Alternative zu Microsoft Azure. Mehrere andere europäische Cloud-Anbieter stehen ebenfalls zur Diskussion, darunter IONOS aus Deutschland, Scaleway aus Frankreich und Aruba aus Italien.
Diese Anbieter haben bereits begonnen, sich zu koordinieren und gemeinsame Standards zu entwickeln. IONOS und Aruba haben beispielsweise zusammen mit Dynamo die Sovereign European Cloud API (SECA) entwickelt, einen offenen Standard für Cloud-Infrastruktur-Management. Diese Initiative zielt darauf ab, die Interoperabilität zwischen europäischen Cloud-Anbietern zu verbessern und Vendor-Lock-in-Effekte zu vermeiden.
Achim Weiß, CEO von IONOS, beschreibt diese Entwicklung als unverzichtbaren Baustein für den Aufbau einer sicheren, unabhängigen und zukunftsfähigen digitalen Infrastruktur, die Europas digitale Souveränität sichert. Die SECA-Initiative ist dabei als erster Baustein der umfassenderen EuroStack-Vision zu verstehen.
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Microsofts Gegenreaktion: Digitale Zusicherungen für Europa
Microsoft hat auf die wachsenden Souveränitätsbedenken mit einer Reihe von digitalen Zusicherungen für Europa reagiert. Das Unternehmen kündigte fünf zentrale Verpflichtungen an, darunter den Ausbau der Cloud- und KI-Infrastruktur in Europa, die Aufrechterhaltung der digitalen Resilienz auch in geopolitisch volatilen Zeiten und verstärkte Datenschutzmaßnahmen.
Mit der Microsoft Sovereign Cloud bietet das Unternehmen sowohl öffentliche als auch private Cloud-Lösungen an, die speziell auf die Bedürfnisse europäischer Kunden zugeschnitten sind. Diese umfassen Data Guardian, das sicherstellt, dass nur Microsoft-Mitarbeiter mit europäischem Wohnsitz Fernzugriff auf Systeme haben, sowie External Key Management für kundengesteuerte Verschlüsselung.
Die EU Data Boundary, die Microsoft bereits 2023 eingeführt und 2025 fertiggestellt hat, verspricht, dass Kundendaten aus Diensten wie Azure, Dynamics 365 und Microsoft 365 standardmäßig innerhalb der EU verarbeitet werden. Allerdings bestehen weiterhin Ausnahmen für Cybersicherheitsbedrohungen und technischen Support, die zu Datentransfers außerhalb der EU führen können.
Trotz dieser Bemühungen bleiben viele europäische Entscheidungsträger skeptisch. Die Tatsache, dass Microsoft als amerikanisches Unternehmen letztendlich der US-Rechtsprechung unterliegt, macht strukturelle Änderungen an der Abhängigkeitssituation schwierig.
Die Marktdynamik: Wachstum europäischer Cloud-Anbieter
Der europäische Cloud-Markt erlebt ein beachtliches Wachstum, ist aber nach wie vor stark von amerikanischen Anbietern dominiert. Während der Markt seit 2017 um das Sechsfache gewachsen ist und bis 2030 eine durchschnittliche jährliche Wachstumsrate von über 20 Prozent erwartet wird, halten europäische Anbieter noch immer nur einen geringen Marktanteil.
Diese Diskrepanz ist teilweise auf die massiven Kapitalinvestitionen zurückzuführen, die amerikanische Tech-Giganten über Jahrzehnte hinweg getätigt haben. Europäische Anbieter bieten bereits umfangreiche Infrastructure-as-a-Service-Lösungen in den Bereichen Computing, Storage und Networking an, haben aber noch Nachholbedarf bei Managed Services und spezialisierten Funktionen.
Christian Scholz von Arvato Systems argumentiert, dass kein einzelner europäischer Anbieter über die finanziellen Ressourcen verfügt, um auf allen Ebenen mit den US-Hyperscalern zu konkurrieren. Vielmehr sei eine Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft erforderlich, um international konkurrenzfähige europäische Cloud-Alternativen aufzubauen.
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Technische und praktische Herausforderungen der Migration
Eine vollständige Migration von Microsoft Azure zu europäischen Alternativen würde erhebliche technische und logistische Herausforderungen mit sich bringen. Die EU-Kommission nutzt Microsoft 365 für eine Vielzahl von Anwendungen, einschließlich Word, Excel, PowerPoint, Outlook und Online-Dienste wie OneDrive, Teams und SharePoint.
Ein Wechsel würde nicht nur die Migration von Daten erfordern, sondern auch umfassende Schulungen für Tausende von Mitarbeitern und die Anpassung zahlreicher Arbeitsprozesse. Darüber hinaus müssten neue Sicherheitsprotokolle implementiert und Compliance-Anforderungen erfüllt werden.
Dennoch sehen Experten in der potentiellen Migration einen wichtigen Präzedenzfall. Wenn die EU-Kommission erfolgreich zu einem europäischen Cloud-Anbieter wechselt, könnte dies andere öffentliche Verwaltungen in ganz Europa dazu ermutigen, ähnliche Schritte zu unternehmen. Die Kommission sieht sich bewusst als Trendsetter, der durch sein Beispiel die Richtung für die gesamte europäische digitale Transformation vorgeben kann.
Geopolitische Implikationen und die Rolle der USA
Die Entwicklungen im europäischen Cloud-Sektor sind untrennbar mit den sich verändernden transatlantischen Beziehungen verbunden. Unter der Trump-Administration haben sich die Spannungen zwischen den USA und Europa in verschiedenen Bereichen verschärft, was europäische Bedenken über die Abhängigkeit von amerikanischen Technologieunternehmen verstärkt hat.
Der CLOUD Act, der es US-Behörden ermöglicht, auf Daten zuzugreifen, die von amerikanischen Technologieunternehmen gespeichert sind, auch wenn diese außerhalb der USA gespeichert sind, ist ein zentraler Streitpunkt. Dieser Rechtsrahmen bedeutet, dass europäische Daten, die bei amerikanischen Cloud-Anbietern gespeichert sind, potenziell der US-Rechtsprechung unterliegen.
Marietje Schaake, ehemalige Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Expertin für Cyberpolitik, betont, dass in Europa ein großer Wunsch besteht, Risiken zu minimieren und sich von der übermäßigen Abhängigkeit von US-Technologieunternehmen zu lösen. Dieser Wunsch wurde in einem offenen Brief von über 100 Organisationen bekräftigt, die europäische Politiker zu mehr technologischer Unabhängigkeit aufforderten.
Wirtschaftliche Auswirkungen und Zukunftsperspektiven
Die potentielle Abkehr der EU-Kommission von Microsoft Azure könnte weitreichende wirtschaftliche Auswirkungen haben. Für Microsoft würde der Verlust eines so wichtigen Kunden einen erheblichen Rückschlag bedeuten, insbesondere angesichts der Signalwirkung für andere europäische Institutionen und Unternehmen.
Gleichzeitig könnte eine erfolgreiche Migration europäischen Cloud-Anbietern erhebliche Wachstumschancen eröffnen. OVHcloud und andere europäische Anbieter könnten von einer verstärkten Nachfrage nach souveränen Cloud-Lösungen profitieren, was ihre Marktposition erheblich stärken würde.
Die langfristigen Auswirkungen könnten jedoch noch weitreichender sein. Eine erfolgreiche europäische Cloud-Initiative könnte den Grundstein für eine umfassendere technologische Unabhängigkeit Europas legen. Dies würde nicht nur die Cloud-Computing-Branche betreffen, sondern könnte sich auf Bereiche wie künstliche Intelligenz, Quantencomputing und andere strategische Technologien ausweiten.
Ein Wendepunkt für Europas digitale Zukunft
Die Überlegungen der EU-Kommission, von Microsoft Azure zu europäischen Cloud-Alternativen zu wechseln, markieren einen potenziellen Wendepunkt in der europäischen Digitalpolitik. Was als technische Entscheidung begann, hat sich zu einer fundamentalen Frage über Europas digitale Souveränität und Unabhängigkeit entwickelt.
Die Kombination aus geopolitischen Spannungen, rechtlichen Herausforderungen und technologischen Möglichkeiten schafft ein Umfeld, in dem radikale Veränderungen nicht nur möglich, sondern notwendig erscheinen. Der Fall Karim Khan hat eindringlich vor Augen geführt, welche Risiken mit der Abhängigkeit von amerikanischen Technologieunternehmen verbunden sind.
Gleichzeitig zeigen Initiativen wie EuroStack und SECA, dass Europa über die technischen Kapazitäten und die industrielle Vision verfügt, um alternative digitale Infrastrukturen aufzubauen. Die Herausforderung liegt nun darin, diese Vision in konkrete politische Maßnahmen und Investitionen umzusetzen.
Unabhängig davon, ob die EU-Kommission letztendlich vollständig zu einem europäischen Cloud-Anbieter wechselt, haben die aktuellen Entwicklungen bereits eine wichtige Debatte über die Zukunft der europäischen Digitalpolitik angestoßen. Europa steht vor der Wahl zwischen weiterer Abhängigkeit von amerikanischen Tech-Giganten oder dem mutigen Schritt hin zu digitaler Souveränität. Die Entscheidungen der kommenden Monate werden die digitale Landschaft Europas für die nächsten Jahrzehnte prägen.
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