Veröffentlicht am: 11. März 2025 / Update vom: 11. März 2025 – Verfasser: Konrad Wolfenstein

Schwarmintelligenz und Schwarmforschung mit Virtual Reality: Deutsche Wissenschaftler analysieren Heuschreckenschwärme – Bild: Xpert.Digital
VR-Forschung deckt neue Strukturen in Heuschreckenschwärmen auf
Durchbruch in der Heuschreckenforschung: Langjährige Theorien widerlegt
Die Wüstenheuschrecke hat seit biblischen Zeiten einen furchterregenden Ruf. Mit Schwärmen von bis zu 50 Millionen Individuen kann diese Insektenart verheerende Schäden anrichten, indem sie ganze Landstriche kahl frisst und damit die Ernährungssicherheit gefährdet. Nun haben Forschende der Universität Konstanz und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie bahnbrechende Erkenntnisse über die Organisation dieser Schwärme gewonnen und dabei langjährige Theorien widerlegt. Mithilfe innovativer Virtual-Reality-Technologie konnten die Wissenschaftler nachweisen, dass sich Heuschreckenschwärme grundlegend anders organisieren als bisher angenommen. Diese im renommierten Fachjournal “Science” veröffentlichte Studie stellt bisherige Erklärungsmodelle auf den Kopf und liefert wichtige Einblicke, die zur besseren Vorhersage und Bekämpfung von Heuschreckenplagen beitragen könnten.
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Das Phänomen der Heuschreckenschwärme und ihre globale Bedeutung
Wüstenheuschrecken (Schistocerca gregaria) zählen zu den beeindruckendsten Beispielen kollektiven Verhaltens in der Tierwelt. Die flugunfähigen Junginsekten, sogenannte Nymphen, leben zunächst als ortsgebundene Individuen. Unter bestimmten Bedingungen schließen sie sich jedoch zu enormen Schwärmen zusammen und beginnen zu wandern – nicht ziellos, sondern in einer koordinierten Bewegung, als würden sie zentral gesteuert. Diese gewaltigen Insektenkollektive können bis zu 50 Millionen Tiere umfassen und stellen damit eines der größten Tierkollektive unseres Planeten dar.
Die Auswirkungen solcher Heuschreckenschwärme sind verheerend. Sie bedrohen nach Einschätzung der Forschenden die Lebensgrundlage von etwa jedem zehnten Menschen weltweit. Ein konkretes Beispiel dafür lieferte die massive Heuschreckenplage am Horn von Afrika zwischen 2019 und 2020, die die landwirtschaftliche Produktion verwüstete und eine Hungersnot auslöste. Die wissenschaftliche Erforschung der Mechanismen, die zur Bildung und Bewegung solcher Schwärme führen, ist daher nicht nur von theoretischem Interesse, sondern hat auch erhebliche praktische Bedeutung für die globale Ernährungssicherheit.
Die bisherige Theorie: Heuschrecken als “selbst-angetriebene Teilchen”
Seit Jahrzehnten wurde das kollektive Verhalten von Heuschreckenschwärmen mit Hilfe eines Konzepts aus der theoretischen Physik erklärt. In diesem Modell werden die Insekten als “self-propelled particles” (selbst-angetriebene Teilchen) betrachtet, die ihre Positionen und Bewegungsrichtungen an ihren unmittelbaren Nachbarn ausrichten. Diese Theorie geht davon aus, dass es ausreicht, wenn sich die Individuen nur mit ihren direkten Nachbarn “in Reih und Glied bringen”, um über den gesamten Schwarm hinweg eine kohärente Bewegung zu erzeugen.
Ein weiteres zentrales Element dieser bisherigen Erklärung war die Annahme, dass die Dichte der Tiere einen entscheidenden Faktor für den Übergang von ungeordneter zu geordneter Schwarmbewegung darstellt. Nach dieser Hypothese beginnt der Übergang zu einer koordinierten Bewegung, sobald genügend Tiere auf begrenztem Raum zusammenkommen. Diese Theorie schien so überzeugend, dass sie jahrzehntelang als Standardmodell für die Erklärung kollektiver Bewegungen in der Tierwelt diente.
Interessanterweise hatten frühere Forschungen unter der Leitung von Iain Couzin, der auch an der aktuellen Studie beteiligt ist, bereits andere überraschende Erkenntnisse zum Schwarmverhalten von Heuschrecken geliefert. So entdeckte sein Team, dass Kannibalismus ein treibender Faktor für die Wanderbewegungen sein könnte – die Heuschrecken bewegen sich demnach vorwärts, um nicht von hinten gefressen zu werden. Diese Erkenntnis deutete bereits an, dass komplexere Verhaltensweisen als bloße physikalische Reaktionen eine Rolle spielen könnten.
Der innovative Forschungsansatz: Virtual Reality enthüllt die Geheimnisse des Schwarms
Um die komplexen Interaktionen im Heuschreckenschwarm besser zu verstehen, setzte das Forschungsteam um Iain Couzin vom Exzellenzcluster Kollektives Verhalten der Universität Konstanz und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie auf einen revolutionären Ansatz: Virtual Reality (VR). “Es ist bekanntermaßen schwierig, die Mechanismen der Interaktion in mobilen Tiergruppen zu erkennen”, erklärt Couzin. “Die Individuen beeinflussen sich gegenseitig und werden zugleich durch das Verhalten der anderen beeinflusst, in einem komplexen Wechselspiel.”
Um dieses Problem zu lösen, entwickelten die Forscher ein ausgeklügeltes VR-Setup. Einzelne lebende Heuschrecken wurden auf einem beweglichen Ball platziert, ähnlich einem Laufband, sodass sie sich frei bewegen konnten. Um sie herum projizierten die Wissenschaftler bis zu 64 fotorealistische virtuelle Heuschrecken, sodass die echten Insekten glaubten, sich in einem natürlichen Schwarm zu befinden. Diese innovative Methode ermöglichte es den Forschenden, präzise zu kontrollieren, welche Informationen der lebenden Heuschrecke zur Verfügung standen – wie viele andere Tiere sich in ihrer Umgebung befanden und in welche Richtung diese liefen.
In einem besonders aufschlussreichen Experiment platzierten die Forscher echte Heuschrecken zwischen zwei virtuelle, dreidimensionale Schwärme. Diese Versuchsanordnung erlaubte es ihnen, gezielt zu testen, ob die Tiere tatsächlich, wie bisher angenommen, auf das Verhalten ihrer direkten Nachbarn reagieren und sich mit ihnen als ein einheitlicher Schwarm bewegen würden.
Überraschende Ergebnisse: Ein Paradigmenwechsel in der Schwarmforschung
Die Ergebnisse der Experimente waren überraschend und stellten die bisherige Theorie grundlegend in Frage. Entgegen der Erwartung der Forscher bewegten sich die echten Heuschrecken nicht als Teil eines großen, einheitlichen Schwarms in dieselbe Richtung. Stattdessen drehten sie sich in Richtung eines der virtuellen Schwärme und liefen gezielt auf diesen zu.
Diese Beobachtung zeigte den Wissenschaftlern, dass die sogenannte “optomotorische Reaktion” – ein angeborener Reflex, der Heuschrecken dazu bringt, den Sinneseindrücken von Bewegung zu folgen – nicht die Ursache für die koordinierte kollektive Bewegung ist. Tatsächlich fanden die Forscher keine Hinweise darauf, dass Heuschrecken ihre Position und Bewegungsrichtung überhaupt anhand ihrer Nachbarn ausrichten.
“Individuelle Tiere sind keine Partikel”, erklärt Iain Couzin. “Wir müssen die Heuschrecken als kognitive, handelnde Subjekte betrachten, die ihre Umgebung beobachten und auf dieser Grundlage ihre Entscheidungen treffen, wohin sie sich als Nächstes begeben.” Die Forschenden gehen nun davon aus, dass die Entstehung eines Schwarms viel stärker von jeder einzelnen Heuschrecke abhängt als bisher angenommen.
Die Experimente zeigten auch, dass die Tiere teils vom gemeinsamen Kurs abwichen, selbst wenn sie zwei Schwärme neben sich hatten, die in die gleiche Richtung liefen. Zudem fand das Team keine Hinweise darauf, dass die Dichte der Individuen, wie bisher angenommen, der auslösende Faktor für die Schwarmbewegung ist.
Praktische Bedeutung für die Bekämpfung von Heuschreckenplagen
Die neuen Erkenntnisse haben weitreichende praktische Implikationen. Ein besseres Verständnis der grundlegenden Mechanismen der Schwarmbildung und -bewegung könnte dazu beitragen, das Verhalten der Insekten vorherzusagen und effektivere Strategien zur Bekämpfung von Heuschreckenplagen zu entwickeln.
Angesichts der Tatsache, dass Heuschreckenschwärme die Lebensgrundlage von schätzungsweise jedem zehnten Menschen bedrohen, ist die Bedeutung dieser Forschung nicht zu unterschätzen. Die verheerenden Auswirkungen der Heuschreckenplage am Horn von Afrika zwischen 2019 und 2020, die zu Ernteausfällen und Hungersnöten führte, verdeutlichen die dringende Notwendigkeit besserer Vorhersage- und Kontrollmechanismen.
Durch die Erkenntnis, dass Heuschrecken nicht einfach als physikalische Teilchen agieren, sondern als individuelle kognitive Akteure mit eigenen Entscheidungsprozessen, eröffnen sich neue Ansätze zur Kontrolle von Schwärmen. Statt ausschließlich auf großflächige Bekämpfungsmaßnahmen zu setzen, könnten künftige Strategien stärker auf das Verständnis und die Beeinflussung individueller Entscheidungsprozesse ausgerichtet sein.
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Zukünftige Forschungsrichtungen und das “Center for Visual Computing of Collectives”
Die bahnbrechenden Erkenntnisse stellen erst den Anfang eines neuen Verständnisses kollektiven Verhaltens dar. Um dieses Forschungsgebiet weiter voranzutreiben, hat Iain Couzin in Konstanz das “Center for Visual Computing of Collectives” initiiert. Dieses Zentrum, das zu den modernsten Einrichtungen zur Erforschung von Gruppenverhalten gehören wird, soll Tierschwärme in virtuellen holografischen 3D-Umgebungen beobachten und ihre Bewegungen analysieren.
Parallel dazu erforscht das Team um Couzin auch die räumliche Entscheidungsfindung bei verschiedenen Tierarten. Eine kürzlich in PNAS veröffentlichte Studie zeigt, wie Tiere die Komplexität ihrer Umwelt verarbeiten, indem sie die Welt auf aufeinanderfolgende Entscheidungen zwischen lediglich zwei Optionen reduzieren. Diese Erkenntnisse deuten darauf hin, dass grundlegende geometrische Prinzipien erklären könnten, wie und warum sich Tiere so bewegen, wie sie es tun – ein Ansatz, der möglicherweise auch auf das Verständnis von Heuschreckenschwärmen angewendet werden kann.
Eine neue Ära in der Erforschung kollektiven Verhaltens
Die Forschung der Wissenschaftler der Universität Konstanz und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie markiert einen Wendepunkt im Verständnis kollektiven Verhaltens in der Tierwelt. Indem sie die lang etablierte Theorie der “selbst-angetriebenen Teilchen” in Frage stellen, eröffnen sie eine neue Perspektive, die Heuschrecken und andere Tiere als individuelle Entscheidungsträger betrachtet, deren kollektives Verhalten aus komplexen kognitiven Prozessen resultiert.
Die Verwendung innovativer Virtual-Reality-Technologie hat sich dabei als Schlüssel zum Erfolg erwiesen. Sie ermöglichte es den Forschern, die bisher undurchdringliche Komplexität von Tierkollektiven zu entschlüsseln und fundamentale Einblicke in die Organisation von Schwärmen zu gewinnen. Diese Erkenntnisse könnten nicht nur unser theoretisches Verständnis kollektiven Verhaltens revolutionieren, sondern auch praktische Lösungen für die Bekämpfung von Heuschreckenplagen bieten, die weltweit die Ernährungssicherheit bedrohen.
Die Arbeit des Teams um Iain Couzin, der für seine Forschung im Bereich Kollektivverhalten bereits mit dem prestigeträchtigen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet wurde, unterstreicht die Bedeutung interdisziplinärer Forschung an der Schnittstelle von Biologie, Informatik und Physik. Sie zeigt eindrucksvoll, wie moderne Technologien uns helfen können, die faszinierenden Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln und gleichzeitig praktische Lösungen für drängende globale Probleme zu entwickeln.
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