Veröffentlicht am: 7. November 2024 / Update vom: 7. November 2024 – Verfasser: Konrad Wolfenstein
Die Herausforderungen der Industrie 4.0: Warum KMU oft skeptisch sind
Die industrielle Landschaft befindet sich in einem kontinuierlichen Wandel. Vor etwa anderthalb Jahrzehnten begann die vierte industrielle Revolution, bekannt als Industrie 4.0, die als Sammelbegriff für eine Vielzahl von Digitalisierungslösungen und datengetriebenen Produktionssystemen steht. Ziel war es, durch den Einsatz modernster Technologie Effizienz und Produktivität zu steigern. Doch trotz der verheißungsvollen Ansätze stehen viele kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) diesem Konzept skeptisch gegenüber. Standardisierte Lösungen wirken oft zu komplex, kostenintensiv in Implementierung und Betrieb oder erscheinen mehr am technisch Machbaren als am tatsächlichen Bedarf orientiert. Dies führt nicht selten dazu, dass Mitarbeitende überfordert werden, statt Unterstützung zu erfahren.
Ein neuer Ansatz mit Industrie 5.0
Es zeigt sich jedoch, dass es alternative Wege gibt, Technologie und Mensch harmonisch zu vereinen. Hier kommt Industrie 5.0 ins Spiel, ein Ansatz, der den Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt. Statt sich ausschließlich auf technologische Innovationen zu fokussieren, geht es darum, eine symbiotische Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine zu fördern. Ein Beispiel hierfür ist ein Projekt des Fraunhofer-Instituts für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (IWU) in Zusammenarbeit mit der Mitras Composites Systems GmbH. Gemeinsam haben sie ein teilautomatisiertes Montageszenario für den Bau von Fahrradgaragen entwickelt, das robuste, wirtschaftlich nachhaltige und vor allem menschzentrierte Prozesse ermöglicht. Die Grundlage bildete eine umfassende Bedarfs- und Anforderungsanalyse, die in enger Kooperation mit den Mitarbeitenden durchgeführt wurde.
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Entwicklung einer menschzentrierten Automatisierungsstrategie
Im Rahmen des Projekts wurde deutlich, dass die bislang manuell ausgeführten Montagetätigkeiten durch eine hybride Automatisierungslösung ersetzt werden sollten. Dies hatte zum Ziel, die Produktivität zu erhöhen und die Mitarbeitenden von körperlich anspruchsvollen Aufgaben zu entlasten. Durch die Integration von Robotern und automatisierten Systemen können Mitarbeitende nun ihre Fähigkeiten in wertschöpfenderen Tätigkeiten einsetzen. In diesen hybriden Szenarien arbeiten Mensch und Technik Hand in Hand, um Arbeitsaufgaben effizient zu bewältigen. So ist es möglich, dass Mitarbeitende unabhängig von Alter oder Geschlecht in der Montage eingesetzt werden können, da schwere Hebe- und Handhabungstätigkeiten durch automatisierte Unterstützung erleichtert werden.
Bei der Umstellung von manuellen auf teilautomatisierte Prozesse ist es entscheidend, dass die Lösungen menschzentriert gestaltet sind. Es reicht nicht aus, einfach Technologie einzuführen; sie muss den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Mitarbeitenden angepasst sein. Im Projekt des Fraunhofer IWU wurde daher eine kognitive Aufgabenanalyse durchgeführt. Dabei wurden die Montageprozesse genau beobachtet und Gespräche mit Mitarbeitenden aus verschiedenen Bereichen geführt. Dieses Vorgehen stellte sicher, dass die Mitarbeitenden, die später mit den automatisierten Systemen arbeiten würden, von Anfang an im Fokus standen. Die gewonnenen Erkenntnisse halfen dabei, Anforderungen an Automatisierungslösungen zu verstehen und Potenziale direkt im Prozess zu identifizieren.
Stefan Ott, Geschäftsführer der Mitras Composites Systems GmbH, betonte den Mehrwert dieser individuellen Herangehensweise. Oftmals gibt es am Markt keine passgenauen Lösungen zu kaufen. Die Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IWU ermöglichte es dem Unternehmen, gezielt zu beurteilen, welche Bereiche sinnvoll automatisiert werden können und welche Auswirkungen dies auf die Mitarbeitenden hat. So wurde sichergestellt, dass die eingeführten Lösungen sowohl dem Unternehmen als auch den Mitarbeitenden zugutekommen.
Wertebasierte Weiterentwicklung der industriellen Produktion
Industrie 5.0 geht über die rein technologische Perspektive von Industrie 4.0 hinaus. Es handelt sich um eine wertebasierte Weiterentwicklung, die den Menschen als entscheidenden Faktor anerkennt. Die Erkenntnis ist, dass ein technologiegetriebener Umbau von Produktionssystemen allein nicht ausreicht, um die gewünschten Effizienzgewinne zu erzielen, besonders bei kleineren Stückzahlen. Zudem sind traditionelle Fertigungssysteme oft nicht flexibel genug, um auf individuelle Kundenwünsche und Nachfrageschwankungen zu reagieren.
Durch die konsequente Einbindung der Mitarbeitenden in die Gestaltung von Prozessen und Automatisierungslösungen können diese Systeme so entwickelt werden, dass sie eine echte Unterstützung im Arbeitsalltag darstellen. Mitarbeitende, die ihre Fähigkeiten und Erfahrungen einbringen, arbeiten nicht nur produktiver, sondern identifizieren sich auch stärker mit ihrem Arbeitsplatz. Sie sind motivierter, nutzen digitale Lösungen bewusster und tragen aktiv zur Innovationsfähigkeit des Unternehmens bei.
Die Abteilung „Mensch in der Produktion“ am Fraunhofer IWU in Chemnitz setzt genau an diesem Punkt an. Durch Forschung im Bereich des Kognitiven Engineerings entstehen innovative Konzepte für Automatisierungsprozesse, die Technik menschzentrierter gestalten und hybride Lösungen schaffen. Das Team um Dr. habil. Franziska Bocklisch richtet dabei Industrie-4.0-Technologien konsequent auf die Werte Nachhaltigkeit, Resilienz und Menschzentrierung aus. Der Fokus liegt stets auf konkreten, industrietauglichen und transferierbaren Lösungen, die Produktivität und Effizienz steigern und gleichzeitig stabile Wertschöpfungsketten sichern.
Die Vorteile menschzentrierter Ansätze
Unabhängig davon, welche Automatisierungsvarianten Unternehmen letztlich wählen, eröffnen menschzentrierte Vorgehensweisen zahlreiche neue Möglichkeiten. Durch die strukturierte Erfassung von Wissen und Fähigkeiten wird internes Know-how formalisiert und nachhaltig gesichert. Dieses Wissen kann digitalisiert werden und unterstützt beispielsweise bei der schnelleren Einarbeitung neuer Mitarbeitender. Assistenz- und Werkerführungssysteme können gezielt eingesetzt werden, um Mitarbeitende in ihren Aufgaben optimal zu unterstützen.
Das Fraunhofer IWU konzentriert sich nicht nur auf manuelle Tätigkeiten, sondern berücksichtigt auch andere kognitive Fähigkeiten des Menschen. Entscheidungs- und Problemlöseprozesse sind etwa bei der vorbeugenden Instandhaltung, der Qualitätssicherung und der Fehlerdiagnose von großer Bedeutung. Durch die Einbindung dieser Aspekte können Unternehmen nicht nur ihre Prozesse optimieren, sondern auch die Kompetenz ihrer Mitarbeitenden gezielt fördern.
Dr. Franziska Bocklisch unterstreicht die Bedeutung der engen Zusammenarbeit mit Unternehmen und Kunden für die menschzentrierte Forschung und Entwicklung. Nur durch gemeinsamen Austausch können Bedarfe und Anforderungen präzise identifiziert, Lösungen entwickelt und mögliche Folgen abgeschätzt werden. Dieses kooperative Vorgehen unterscheidet sich deutlich von traditionellen Automatisierungsstrategien, bei denen oft der Automatisierungsgrad als alleiniges Maß für Effizienz betrachtet wurde.
Die Zukunft der Produktion: Symbiose von Mensch und Maschine
Die effiziente Produktion der Zukunft wird nicht allein durch Technologie bestimmt, sondern durch die optimale Kombination von menschlichem Wissen und technischen Möglichkeiten. Die zielgerichtete Nutzung menschlicher Kompetenzen in Verbindung mit leistungsfähigen Mensch-Technik-Systemen wird zunehmend entscheidend für eine nachhaltige und resilientere Produktion. Unternehmen, die diesen Ansatz verfolgen, sind besser aufgestellt, um flexibel auf Veränderungen im Markt zu reagieren und sich gegenüber externen Störungen zu behaupten.
Die symbiotische Zusammenarbeit von Mensch und Maschine führt zu Arbeitsplätzen, die nicht nur effizienter, sondern auch attraktiver sind. Mitarbeitende fühlen sich wertgeschätzt und eingebunden, was zu höherer Motivation und Zufriedenheit führt. Dies ist gerade für mittelständische Unternehmen von großem Vorteil, da sie so ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern und gleichzeitig ein positives Arbeitsumfeld schaffen können.
Menschzentrierte Industrie als Schlüssel zum Erfolg
Industrie 5.0 zeigt, dass der Mensch im Mittelpunkt technologischer Innovation stehen muss, um langfristig erfolgreich zu sein. Durch die Integration von Mitarbeitenden in die Entwicklung und Implementierung von Automatisierungslösungen entstehen Prozesse, die sowohl effizient als auch flexibel sind. Unternehmen profitieren von gesteigerter Produktivität, während Mitarbeitende von ergonomischeren Arbeitsbedingungen und der Wertschätzung ihrer Fähigkeiten profitieren.
Die Zusammenarbeit zwischen dem Fraunhofer IWU und der Mitras Composites Systems GmbH verdeutlicht, wie solche Ansätze in der Praxis umgesetzt werden können. Durch maßgeschneiderte Lösungen, die auf den tatsächlichen Bedarf des Unternehmens und der Mitarbeitenden ausgerichtet sind, können nachhaltige Verbesserungen erzielt werden.
Die Zukunft der Industrie liegt in der harmonischen Verbindung von menschlicher Expertise und technologischer Innovation. Unternehmen, die diesen Weg einschlagen, werden nicht nur ökonomisch profitieren, sondern auch einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen und menschenfreundlichen Arbeitswelt leisten.
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